Tinte-trilogie, Band 2 "AFRA"

 I

 

 

Der Engel mit dem Schlüssel zum Abgrund sitzt auf dem Dach der morschen Hütte im Weinberg und summt ein Lied. Es wäre interessant zu wissen, welches Lied es ist, aber dieser Engel summt nicht sehr gut. Außerdem kennt er alle Lieder und wir nicht, also ist es schon Glück, wenn mal ein bekanntes dabei ist. Um ihn herum auf der Dachpappe sitzen seine Blauracken, putzen sich, schlummern mit dem Kopf im Gefieder, halten Ausschau nach Bewegung in der Furche. Dort liegt Afra. Sie wacht gerade auf, weil ihr fröstelt. Die Sonne geht unter und im Schatten der Reben ist es frisch.

 

Klamm dreht sie sich in dem Dreck auf den Rücken und blickt in den Himmel. Sie hat geträumt, abenteuerliche Dinge. Aufregende Verschwörungsgeschichten an merkwürdigen Orten. Liebe war auch dabei, aber unglücklich. Zuletzt lag der Mann, den sie begehrte, erschöpft in einem Krankenhausbett und entschied sich für eine anderer Frau  – eine Rothaarige, die Afra sehr unsympathisch fand. Sie schließt noch einmal die Augen, um sich das Gesicht des Mannes zu vergegenwärtigen, aber die Fetzen des Traums verbleichen bereits und hinterlassen nur den feuchten Nebel der Stimmung. Afra seufzt. Sie setzt sich auf und blickt hinunter in die Stadt. In den wohlhabenderen Vierteln fährt langsam die elektrische Beleuchtung hoch, ein majestätischer Anblick allemal.

 

Ihr jucken Po und Beine, ihre Lederjacke fühlt sich unangenehm kühl an, die Stiefel sind schmutzig. Sie hört hinter sich ein Geräusch, aber es ist nur der Engel mit dem Schlüssel zum Abgrund. Sie sehen sich kurz in die Augen, dann beginnt er wieder mit der Summerei, die er höflich unterbrochen hatte, so lange Afra zu sich kam. Die sieht wieder ins Tal und über die Stadt. Sie hat sich Ferien verordnet und ein rotes Kleid an. Aber eigentlich ist ihr nicht nach Erholung und Eroberung. Sie fühlt Melancholie, die Schwermut eines Lebens ohne Loyalität und Verpflichtung. Andere übertünchen das glücklich mit dauernder Schieflage und leckeren Suchtstoffen. Aber schließlich ist sie kein Partygirl mehr und braucht eine Aufgabe im Leben. Eine, die sticht.

 

Afra holt einen Kaugummi aus der Jackentasche gegen den schlechten Geschmack. Morgen heiratet ihre beste Freundin LKW. Davor graust ihr ein wenig. Aber das ist nicht der Grund für ihre empfindliche Stimmung. Sie fühlt sich fremd in der Welt. Die interessanten Dinge weichen vor ihr zurück, die klugen Menschen schweigen beredt, die Spiegel werden blind. Wie in einem japanischen Film, wenn der Diener den Shogun beleidigt hat, indem er seine Präservative zu heiß wusch, und nun die Menschen die Fensterläden schließen, wenn er vorbeigeht. Dabei fehlt es ihr nicht an Energie, ihr fehlt es an Zielen.

 

Eine Ameisenstraße führt über Afras Stiefel mit der klaren Vorgabe, Rebläuse zu melken. Afra bläst sie fort und wartet, bis sich der Zug wieder geschlossen hat. Dann steht sie auf, schlägt sich die Krume aus den Falten, schüttelt die Haare frei. „Wir gehen!“ Der Engel mit dem Schlüssel zum Abgrund springt vom Dach, die Blauracken fliegen auf. Sie folgen Afra durch den Weinberg hinunter in die Stadt. Der regelmäßige Schritt befreit auch aus ihrem Hirn Melodie und Rhythmus. Ein englischer Heuler, dessen Text sie nie verstand und deswegen in Phantasiesprache abgespeichert hat.

 

Langsam wird es dunkel. Sie findet den Ausweg aus dem Weinberg dort, wo die Straße aus dem Zentrum zum Hafen führt, eine Kreuzung, an der eine falsche Richtungswahl direkt in gefährliches Territorium führt. Ein paar Nonnen in Troststarre sitzen noch hier. Sie sehen Afra mit ihren Staubaugen an. Diese Blicke sind undurchsichtig. Das macht Afra nervös. Außerdem ist ihr ein Zögern in der Öffentlichkeit peinlich, deswegen fühlt sie sich genötigt, schnell zu entscheiden, wohin gehen. Ohne echte Gewissheit nimmt sie den Weg in den Hafen. Vermutlich ist es die Hoffnung auf Musik und Alkohol.

 

„Hast du einen Pulli für mich?“, fragt sie ihren Begleiter im Gehen.

 

„Nur einen von Tommy Hilfiger“, antwortet der.

 

„Egal. Gib her.“

 

Der Engel mit dem Schlüssel zum Abgrund reicht ihr einen hellblauen Pullover mit V-Ausschnitt und grünen Rauten, der überhaupt nicht zu Afras Kleid passt. „Danke“, sagt sie, und lächelt sogar ein wenig. Sie folgt der Straße, die Blicke der Nonnen folgen ihr stumm, dumpf justiert von ihrem ausgeleierten Gewissen, bis sie hinter der ersten Kurve verschwunden ist. Dann rappeln Jesu Bräute sich mühselig auf und humpeln mit ihren eingeschlafenen Beinen zurück zur Mission im Slum der Guten Hoffnung.

 

Auf der Serpentinenstraße, die Afra hinab läuft, gibt es allerlei Tiervolk. Hunde, Luchse, Ratten und Katzen, aber auch Bären. Sie alle kommen nachts, weil die Reichen, die oberhalb der Straße wohnen, ihren Müll über die Gartenmauern kippen. Natürlich offiziell nur, wenn die Müllabfuhr streikt, aber bei dem Zustand der öffentlichen Haushalte kann man wirklich nicht auch noch darauf achten, ob die Tonnen doch mal abgeholt werden. Also stöbern die Tiere in dem Abfall nach Essbarem und sind eigentlich ganz friedlich, wenn man nicht mit Luftgewehren nach ihnen schießt oder den Haufen zu nahe kommt. Wenn es um Nahrung geht, sind Tiere nämlich extrem misstrauisch.

 

Leider werfen sie bei dieser nächtlichen Aktivität auch die Holzkreuze um, mit denen an die verunglückten Motorradfahrer erinnert wird, die den Kurs zum Hafen als Rennstrecke liebten. Das hat schon manche Mutter empört, aber dann waren diese auch wieder ganz froh, dass sie jeden Morgen herfahren können, um die hölzernen Kenotaphen wieder aufzurichten und mit neuen Blumen und ewigen Lichtchen zu schmücken. Manche Weltbilder sind ganz einfach zu desinfizieren. Afras allerdings nicht. Ihre notorische Wachheit registriert alles, was geschieht. Die Kirchenglocke, die elf schlägt, die Autofahrer, die ihr ins Gesicht leuchten, wenn sie den Schlaglöchern ausweichen, die Unbeständigkeit der Weltordnung und die Tatsache, dass sie wahrscheinlich noch immer mit Karma zusammen wäre, wenn diese auch nur einen kleinen Teil dessen an Temperament hätte, was sie an Empfindlichkeiten besitzt.

 

Dieses kleine, schief proportionierte Mädchen mit der schweigenden Vergangenheit hatte ihr sinnlich sehr gut gefallen, aber Karmas Phlegma im Bett wurde durch die Energie ihrer Nörgeleien und Gereiztheiten nicht wirklich adäquat ausgeglichen. Ein neurotisches Ding, das immer nach Harmonie schrie, das nie über sich sprach, jeden Konflikt zerschwieg, und dem man dann nach einem Streit auch noch ernsthaft erklären musste, warum man Sachen nach ihr geworfen hat – das war nichts für Afras Verlangen nach selbstverständlicher Leidenschaft.

 

„Gefühle sind keine wirklich vertrauensvollen Größen“, sagt der Engel mit dem Schlüssel zum Abgrund hinter ihr.

 

„Kannst du bitte damit aufhören, meine Gedanken zu lesen“, antwortet Afra unwirsch.

 

„Und auch nicht besonders verläßliche“, fügt er noch leise hinzu.

 

Afra knurrt: „Was sind sie denn?“

 

Aber jetzt will der Engel mit dem Schlüssel zum Abgrund nicht mehr reden. Wäre sein Reichtum an Weisheit groß genug, dass er frei von beleidigten Gefühlen sein könnte, müsste Seine Reinheit nicht hier auf der Erde wirtschaften. Aber dann kommt Gott sei Dank ein Autofahrer mit Fernlicht sehr nah an Afra heran und hupt auch noch, so dass der Engel mit dem Schlüssel zum Abgrund seinem strafenden Geschäft nachgehen kann und den Fahrer bei der nächsten Kurve in den Graben lenken lässt. Mit den lustigen Geräusch von splitternden Scheiben und Knochen ist die kleine Missstimmung zwischen ihnen schnell wieder vergessen.

 

Dabei ist es an diesem Berg überhaupt nicht nötig, Fernlicht aufzublenden. Dank der wattstarken Beleuchtung der Containerterminals am anderen Ufer, leuchtet der Himmel am Hafen so hell, dass die Möwen auch nachts fliegen und schreien. Es ist vielmehr die Drohung einer lauernden Polizei, die Männer hinterm Lenkrad an dieser Stelle so korrekt macht. Denn an Orten wie diesem, wo es für die eigene Gesundheit nur Gefahren niederer Größe gibt, ist der Polizist naturgemäß ganz stark vertreten, während er in die Slums freiwillig keinen Fuß setzt. Wer will es ihm verübeln. Nicht nur aus Gründen der leiblichen Gefahr. Es ist weit mehr eine Frage der Berufspsyche. Jeder Ordnungshüter gewinnt seine Stärke aus der Tradition. Und die Mischwelt der Hafenviertel ist nun mal der Ort, an dem die Polizei seit den grauen Tagen fehlender Straßenbeleuchtung ihre Heldensagen generiert hat, sich auskennt und sicher fühlt. Ein Milieu vitaler Bitterkeit, in dem sich Kriminalität, Kitzel, Korruption und Künstlerleben begegnen, das ist ein würdigeres Terrain für Männer in Uniform als das irrationale Gewaltlabyrinth der Slums.

 

Afra nähert sich jetzt den Ausläufern des Amüsiergevierts. Ein typischer Ort nostalgischer Architektur, den der Tourismus vor dem Abriss bewahrt hat. Die Lücken zwischen den angekratzten viergeschossigen Fachwerkbauten, vergilbt in einer Farbigkeit, die auch 256 Millionen Tonstufen auf dem Computerbildschirm nicht seelisch wiedergeben können, füllen rostige Containertürme mit lauter Musik. Im Stadion ist ein Spiel, die Kurden demonstrieren, die Straßen schlingen sich um die Grundrisse, die Erdgeschosszonen sind verspiegelt. Hier arbeiteten preiswerte Prostituierte, hier spielen ihre Kinder vor der Tür und rauchen. Meistens die rosa „Chairmen’s“.

 

Doch nur wenige Straßen weiter wird es großstädtisch. Zehn- bis zwölfgeschossige, manchmal unverputzte, meist bunt dekorierte Verfallsstudien einer zügellosen Moderne säumen die blinkenden Boulevards, die sternförmig das Quartier durchziehen und sich in der Mitte auf dem Platz St. Vergnügungstod treffen – in einem großen Rondell mit dem Reiterstandbild Angela Merkels. Seitengassen sind für Menschen da, die ihr Ziel kennen, Clubs, Kaschemmen, Revuen und Daddelhallen unterstreichen ihre Wichtigkeit mit akustischen und elektromagnetischen Frequenzen.

 

„Willst du zu mir?“ fragt ein kleiner Junge mit Brille, der mit einem Schauspielervertrag vor einer Nackttanzbar kobert, die schweifende Afra. Der schweigende Inder hält ihr den Pappbecher hin, eine alte Frau, die sich vollgepisst hat, liegt vor einer frisch gesandstrahlten Wand auf einer Pappe, die Heilsarmee singt vom strahlenden Morgen. Hier war Afra lange zu Hause. Morgens mit den Amseln aus den Kneipen, vollgekotzte Hauseingänge, Männer im Smoking, die ihre nackten Frauen an der Hundeleine über die Straße ins Casino führen, der Geruch von totem Fleisch und grauen Hoffnungen, von synthetischer Euphorie und besonderen Menschen.

 

Dann kam das viele Geld und Afra zog in ein Penthouse ins Zentrum. Ein anderes Leben begann, das kultivierte, das reisende, das Leben als Abgesandte des subkulturellen Selbstbewusstseins. Spannend, abwechslungsreich, magnetisch für Neid und Missverständnisse. Aber jetzt? Wie fühlt sie sich? Fehlende Erschütterung, gelangweiltes Rangieren von Bildern und Worten, zu viele Satzanfänge mit „schließlich“.

 

Afra geht ins Beckett. Unwahrscheinlich, dass sie jemand hier anders kennt denn als die Frau, die früher häufiger kam. Der Engel mit dem Schlüssel zum Abgrund setzt sich an einen freien Einzeltisch neben die Tür und verschwindet in den Falten der Zeit, Afra nimmt den einzigen freien Hocker am Tresen. Links von ihr sitzt ein Polizist, der vom Hals bis zur Hüfte eng mit grauem Gartendraht umwickelt ist. Unten sehen seine großen Hände mit den geschwollenen Gelenken raus, die darauf verweisen, dass er ein Problem mit dem Herz hat. Seinen bunten Cocktail trinkt er durch einen langen, phosphorizierenden Strohhalm. Rechts von Afra schläft ein Slumbewohner in McVolunteer-Arbeitskleidung mit dem Kopf auf dem Tresen vor seiner Bierflasche.

 

„Gin!“, sagt Afra zur Barfrau, die fürs Beckett und die statischen Launen seiner Gäste ungewöhnlich hübsch ist.

 

„Is’ doch gemein, wie die einem wieder die Sehnsucht weckt“, sagt der Polizist geradeaus in die Flaschen hinterm Thresen, als die Schönheit am anderen Ende bedient.

 

„Versteh' ich“, antwortet Afra und nimmt einen Schluck.

 

„Vorhin habe ich mich noch mit Ihrem Nachbarn unterhalten“, spricht der Polizist weiter nach vorne: „Aber dann ist er mittendrin eingeschlafen.“

 

„Worüber haben sie denn gesprochen?“, fragt Afra unter Auferbietung all ihrer anerzogenen Höflichkeit.

 

„Ach, über Parkplatzprobleme.“

 

„Ist vielleicht auch ein bisschen langweilig für einen, der nur ’n paar zerlumpte Schuhe an den Füßen trägt.“

 

„Vielleicht haben Sie recht“, sagt der Polizist und nickt: „Vielleicht haben Sie recht.“

 

Der Raum, verkleidet mit beweglichen Augen und möbliert mit Tiroler Massivholz, in das Generationen von Gästen bereits ihren Kummer geritzt haben, ist hinter dem voll besetzten Tresen nur mäßig gefüllt. Ein paar Musiker und Architekten aus der ehemaligen Sonnenkollektoren-Fabrik im Hinterhof mischen sich mit Arbeits- und Haltlosen, denen das Leben bis hier steht, weswegen sie jeden Abend trinken und auf die Frau ihres Lebens warten. Die sitzt allerdings mit dem gleichen Gedanken beim Yoga oder im Spanisch-Kurs. Deswegen wird die Menschheit wohl bald aussterben.

 

„Ich habe sie hier schon häufiger gesehen“, beginnt der Polizist die Unterhaltung von Neuem.

 

„Ich Sie nicht.“

 

„Da habe ich auch noch hinter der Überwachungscamera gearbeitet. War selber nie hier.“

 

„Und was machen Sie jetzt?“

 

„Bewache so ne Künstlerkolonie in der Wooster. Ne Tänzerin mit ihrem Blagen, ein Theatermann, der im Keller im seichten Wasser spielt, Filmemacher, so nen Zeugs. Die Stadt will die da unten haben, damit sich das Viertel wieder ein bisschen aus den Fängen des Slums befreit. Dafür haben Sie jetzt n paar erfahrene Jungs abgestellt, aber die meiste Zeit sitzen wir im Wagen, kucken Pornos, Filme, so nen Zeugs. Die Straße ist seitdem ganz friedlich. Kleine Schlägerei mal, aber sonst haben die Sponcs sich verzogen.“

 

Afra spürt den kurzen Reflex, aufzustehen. Typen, die Slumbewohner "Spit-on-Creatures" nennen, sind entweder weiße Rassisten oder schwarze Kabarettisten, und zur lustigen Sorte gehört dieses Exemplar gefesselter Aggressionen sicherlich nicht. Aber irgendwie erscheint ihr diese Form von Zivilcourage gerade unendlich bemüht. Also bleibt sie sitzen und antwortet ironisch: „Stadtplanung lohnt sich also doch.“

 

„Sie kennen sich da aus“, bemerkt der Bulle erfreut.

 

„Ein wenig“, antwortet Afra resigniert und stößt den Nachbarn zur Rechten an: „Sag du doch auch mal was!“

 

Der Mann schreckt hoch, greift blitzartig nach seiner Schultasche, die er zwischen den Knien eingeklemmt hat, dann entspannt er sich wieder, sieht die Frau an und lächelt in nicht steigerungsfähiger Breite: „Ich heiße Heiti-Heiti.“

 

„Afra. Schönen Tach auch. Und Ihr Name?“

 

„Rock“, sagt der Polizist: „Ich heiße Rock, Rock Bamberger.“

 

„Soso. Rock Bamberger und Heiti-Heiti. Was für ein Gespann.“

 

„Wir sind kein Gespann“, murrt Heiti-Heiti. „Er hat mich vollgetextet.“

 

„Hat er bei mir auch versucht. Deswegen habe ich dich ja geweckt.“

 

 Rock schweigt beleidigt, Heiti-Heiti sieht nun auch nicht mehr so einnehmend auf Afra.

 

„Und was treibt euch Sandkastenfreunde in dieses spezielle Loch?“, hält nun Afra die Unterhaltung am Laufen.

 

„Die Musik“, sagt Rock durch die große rote Nase. „Manchmal spielen die hier Dire Straits und Bob Seeger.“

 

„Die spielen hier definitiv niemals Dire Straits und Bob Seeger“, widerspricht Afra in ihrer Ausgeher-Ehre getroffen. „Das ist ein cooler Laden.“

 

„Vielleicht warst du schon länger nicht mehr hier?“ fragt Rock freundlich.

 

„Das stimmt. Aber wenn die in der Zwischenzeit angefangen haben, Wiederbelebungsmusik für Rocker im Sauerstoffzelt zu spielen, komme ich auch so schnell nicht wieder.“

 

Afra sieht sich das erste Mal bewusst in der von ihr früher regelmäßig besuchten gastronomischen Einheit um, kann aber keinen großen Unterschied feststellen. Weder Lebensmittelschwangere in Kaufhausklamotten noch Kastanien aus den Vorstädten, die Leichtzigaretten rauchen und nicht wissen, welche der mit Millionen Zetteln und Aufklebern dekorierten Türen zur Frauen-Toilette führt (Herren links, Frauen rechts, so ist es doch seit Äonen Kneipenbrauch), verlangsamen hier den Fluss der Sehnsucht. Und auch die Musik klingt wie immer: wohltemperierter europäischer Schrabbel-Rock und Non-Chauvi-Hip-Hop aus New York.

 

„Sie müssen sich täuschen Bamberger. Hier geht es um andere Sentimentalitäten.“

 

Rocks Versuch, mit den Schultern zu zucken, wird von seiner Drahtverschnürung unterbunden, also grunzt er nur.

 

„Und deine Aufenthaltsberechtigung?“ fragt Afra zu Heiti-Heiti hinüber: „Al Jolson-Parodie oder Roberto Blanco-Kurs?“

 

„Letzte Reste sozialer Antriebskräfte“, antwortet dieser, „aber die Müdigkeit war stärker.“

 

„Du sprichst aber nicht wie ein Sponc“, stellt Bamberger verwundert fest.

 

„War mal Arzt in Mogadischu.“ 

 

„Arzt, soso“, schmunzelt Afra.

 

„Und ? Arbeitest du was jetzt?“ fragt Bamberger in polizeilicher Gewohnheit weiter.

 

„McVolunteer schickt mich mal hierhin, mal dahin. Da ich keine Drogen nehmen, bin ich morgens pünktlich. Das mögen die.“

 

„Was Interessantes dabei?“

 

„Nichts so ja nein. Verkaufe Instant-Capuccino, repariere Computer, Arschabwischen, Parkhaus, Qum-Quat-Ernte. So Negertätgkeiten halt. Nur bei Harland St. Jude ist es bad. Dem ersetze ich manchmal das fehlende Gesellschaftsleben.“

 

„Dem Philosoph?“ fragt Afra erstaunt.

 

„Dem Wahnsinnigen, ja.“ nickt Heiti-Heiti. „Redet den ganzen Tag vom Neuen Menschen, spukt Kautabak auf die Dielen, trägt immer Morgenmantel über dem altmodischen Anzug und dirigiert Sinfonien zu einem museumsreifen CD-Player. Ab und zu lässt er sich Prostituierte kommen, die sich zunächst lange Vorträge über die heilende Wirkung der Selbstgewissheit und die überlegene Schule des Humors anhören müssen, bevor sie sich sehr mühselig stundelang um seine Erektion bemühen. Er selbst benimmt sich dabei wie ein Kind und kichert die ganze Zeit. Ich serviere in der Zeit Champagner, mit dem er seinen gigantischen Schuldenberg noch vergrößert, und spiele am Flügel Liszt oder Chopin. So ne Thomas-Mann-Type eben, aber seine Schriften werden ja gerade wieder modern.“

 

Afra nickt. „Ich würde den gerne mal kennenlernen.“

 

„Wenn du mir deine Nummer gibst, rufe ich dich an, wenn ich das nächste mal hin muss. Er freut sich bestimmt.“

 

Afra grinst ihn herablassend an, überlegt es sich dann aber anders: „Wenn du mich ansonsten nicht nervst, von mir aus“, und sie schreibt ihm ihre Mobil-Box-Nummer auf.

 

Der stumme Inder mit dem Pappbecher kommt rein und macht seine Runde. Ihm folgt eine mobile Reisküche, der Wachturm und Wau-Uta, der Baumfrosch, der sehr angestrengt überlegt, wie er es anstellen kann, den Menschen das Gefühl für Außen und Innen zu vertauschen, um so den Regenwald zu retten, aber das Einzige, was ihm einfällt, ist die Hilfe vom betrügerischen Gott, und das lässt er dann lieber.

 

„Wollen wir über die Liebe reden?“ fragt Rock vor sich hin.

 

„Wo soll das hinführen?“ fragt Afra zurück.

 

„Dass man sich besser fühlt“, antwortet Rock vorsichtig.

 

„Ohjemine“, seufzt Heiti-Heiti.

 

„Ich suche schon das ganze Leben lang die Richtige“, beginnt Rock sein Thema.

 

„Wer tut das nicht“, wirft Afra ein.

 

„Aber neulich dachte ich, ich hätte sie gefunden. Es war im Park, wo ich manchmal hingehe, die Hummeln flogen, ich versuchte nicht ans Rauchen zu denken...“

 

„Mein Gott, was ist das für eine Polizei“, stöhnt Heiti-Heiti.

 

„... und mein Ausschlag juckte. Plötzlich stand eine imposante Figur vor mir, die Arme in die Hüfte gestemmt und fauchte mich an 'Haben Sie dem Jungen seinen Ball geklaut?' und sie zeigte mit dem Finger auf einen heulenden Rotzlöffel, der in unsere Richtung starrte. 'Nein, natürlich nicht' antwortete ich verdattert und dann geistesgegenwärtig, wie ich sonst nicht bin: 'Aber ich kann ja beim Suchen helfen.' Der Ball lag unter meiner Bank und als er gefunden war, habe ich sie geistesgegenwärtig, wie ich sonst nicht bin...“

 

„...gefragt, ob du sie zu einem Kaffee einladen könntest“, unterbricht Afra Rock, der sie nun das erste Mal erschrocken ansieht. „Das ist sehr langweilig, Rock. Komm zu den Problemen.“

 

Der gefesselte Mann sieht wieder hilfesuchend auf die Flaschenbatterie vor dem Barspiegel und entschließt sich dann folgsam zu sein: „Sie kuckt jeden Tag 'Das Bibelrätsel'. Sie sagt...“ und Rock ahmt eine quäkende Frauenstimme nach, „'Ich versuche zu essen, bevor ich Hunger kriege.' Sie findet Polizisten dumpf und intolerant, und sie sagt, ich hätte keinen Humor.“ Afra und Heiti-Heiti nicken zustimmend. „Sie ist rechthaberisch, ständig müde und will nie Sex.“

 

„Bei uns im Stamm gibt es ein Sprichwort“, sagt Heiti-Heiti: „Wenn die Vergoldung abgefallen ist, sehen alle Rosen aus wie Totenköpfe.“

 

Dann hören sie schweigend ein wenig der Musik und ihren Getränken zu, aber bevor Rock wieder anfangen kann, fragt Afra Heiti-Heiti lieber, was er in seiner Tasche hat: „Was hast du eigentlich in deiner Tasche?“

 

Heiti-Heiti nimmt die Aktentasche, die er noch immer zwischen seine Knie geklemmt hat, als sei das eine natürliche Aufbewahrungsart, und legt sie auf den Tresen. Er öffnet sie und verteilt bis auf ein umfangreiches Dossier seine Habseligkeiten ordentlich auf der Tischplatte.

 

„Ein Foto von meiner ermordeten Frau, ihr Ehering, meine Arbeitspapiere, etwas Geld, zwei Unterhosen zum Wechseln, Rei in der Tube, Kaugummi, Zahnbürste, eine Statuette von Kotyto, der thrakischen Göttin der Unzucht, einen Fetisch von Ajagbo-ekun, dem Erdgeist, ein paar Pulver und Ketten, mein Pausenbrot mit Aachner Pflümli drauf, mein Roman über das Slumleben und eine Rede von Harland St. Jude, die ich eigentlich zum Verleger bringen sollte, aber das hat ja noch ein wenig Zeit. Ist ja Philosophie.“

 

„Ermordet von wem?“ fragt Afra.

 

„Von Kindern, die sich anziehen wie Vögel und Dinge zu sich nehmen, die jedes Mitgefühl abtöten.“

 

„Das tut mir leid“, sagt Afra. „Wie lange ist das her?“

 

„Ein paar Monate.“

 

Die Frau auf dem Foto ist eine elegante, schmalgliedrige Somali mit großen Augen, gekleidet in einen weißen fließenden Umhang.

 

„Und warum trägst du keinen Ehering mehr, wenn du ihr so treu ergeben bist?“ fragt Rock von der Seite einen schrägen Blick auf Heiti-Heitis Habseligkeiten werfend.

 

„Den hat man mir im Slum geraubt. Sie haben gedroht, mir sonst den Finger abzuschneiden.“

 

Jetzt wendet sich Rock Heiti-Heiti zu und sieht ihn durchdringend an.

 

„Weißt du was, Heiti-Heiti, du bist doch nur der nächste kleine schwarze Lügner. Die Frau da auf dem Foto ist niemals deine Frau. Das ist nämlich Shangri-La Shiloe, die Sängerin von Tears & Pearls. Die kenne ich vom Personenschutz. Und ein Arzt bist du wahrscheinlich auch nicht. Was du uns hier auftischt sind doch nichts als die üblichen Ghetto-Klischees, die man von allen Sponcs zu hören bekommt.“

 

„Das Elend besteht nun mal aus Stereotypen“, versucht Heiti-Heiti sich zu verteidigen.

 

„Hat er denn Recht?“, fragt Afra.

 

Heiti-Heiti grummelt etwas Unverständliches und packt seine Utensilien wieder in die Schultasche.

 

„Aber das mit Harland St. Jude stimmt. Das kann ich beweisen.“

 

„Schon gut“, sagt Afra, „Vielleicht erfindest du deine Geschichten das nächste Mal etwas cleverer.“

 

Sie zahlt und verabschiedet sich, denn zu ihrer melancholischen Stimmung passen die beiden Einsamkeitsakrobaten zu gut, um passend zu sein. Der Engel mit dem Schlüssel zum Abgrund trottet ihr hinterher, die Hände in den Hosentaschen, die Sonnenbrille gegen die Neonreklame schief auf der Nase. Afra bummelt Richtung Flussmündung.

 

„Warum werde ich nie glücklich, Engelchen?“, fragt sie ihren missmutigen Begleiter, der die Gnade gegen die Menschen manchmal so satt hat.

 

„Das ist nichts Persönliches, mein Schatz. Die Liebe ist so bedeutsam wie eh und je. Aber ihr Menschen habt dem Streben nach individueller Freiheit jede Geduld und Zurücknahme geopfert. Ihr hascht ständig irgendwelchen Genüssen und Idealen nach. Das passt nicht zur Trägheit großer Gefühle.“

 

„Wie meinst du das?“

 

„Nun, es ist mit dem Leben wie mit der Musik. Ihre Ausdrucksfähigkeit ist abhängig von ihrem Tempo. Ist sie schnell, wird uns lustig und euphorisch, wird sie langsam und tragend, gewinnen Ernst und Pathos an Kraft. So ist es auch mit dem Leben und mit der Liebe. Ihr habt es alle so eilig mit dem Schönen. Glück ist aber nicht lustig. Das braucht ein ganz entspanntes und ernstes Schreiten.“

 

„Vielleicht dein himmlisches Glück, aber das will dann ja auch immer gleich Schicksal genannt werden. Wovon ich spreche ist Hingabe, Leidenschaft, Vertrauen, Erkennen, Frohsinn.“

 

„Ach, mein Seelchen, dafür gibt es doch jeden Tag genug Gelegenheiten.“

 

„Und warum krieg ich es dann nie?“

 

„Weil du so stolz bist? Weil du Angst hast? Weil du widersprüchliche Dinge in der Liebe suchst? Weil du den richtigen Menschen nicht erkennst, wenn er vor dir steht? Oder einfach: Pech?“

 

„Göttliche Gewissheit ist aber auch nicht mehr das, was sie mal war.“

 

„Der Spruch ist nicht neu.“

 

„Aber treffend.“

 

Afra bummelt weiter über das warme Pflaster. Nieselregen setzt ein und verdampft sofort. Pärchen, die sich eine Stunde lang in der Kneipe angeschwiegen haben und schlaflose Schaffner begegnen ihr, ein kleiner Mann mit Pigmentstörungen im Gesicht, ein Weinbergschneckenverkäufer, der Inder mit dem Pappbecher.

 

Afra stellt sich unter die Markise eines Lebensmittelladens malayischer Provinienz, denkt wieder an Karma, das verspannte Ding. Hatte nach der Trennung noch mehrmals angerufen, wollte aber nicht reden, nur Freundinnen bleiben, ein wenig plauschen. Dafür hat Afra leider sehr wenig Verständnis. Karmas zähe Art, die eigene Lebenslüge vor unangenehmen Fragen abzuschirmen, suchte sich auf diese Art nur einen neuen Vorgarten für ein paar Gartenstühle und den Grill. Afra verachtet das, diese verlogene Harmoniesucht. Sie braucht Anregung. In der Liebe will sie was, Selbstverständlichkeit, stilles Verständnis, die gleichen schmutzigen Gedanken. Sie hat Ansprüche, sie will Liebe ausprobieren, ohne jeden Vorstoß mit verklemmten Antworten, abwehrenden Gesten, verbissenen Zähnen und Schweigen abgeschnitten zu bekommen.

 

Karma schwieg. Sie schwieg auf alle Fragen, zum Beispiel, warum man nicht Sex auf der Galerie-Toilette haben kann, was am gegenseitig den Po versohlen so schlimm sei, und ob sie denn nie von allein die Geilheit überkommt. Natürlich schwieg Karma auch zu Vorwürfen. Wenn Afra ihr vorhielt, dass sie eine verkniffene neurotische Kuh sei, die dringend mal eine Therapie machen sollte, schwieg sie. Wenn Afra verlangte, dass man sich ausspricht, schwieg sie. Wenn Afra Gründe hören wollte, warum sie immer in so kindlichen Begriffen wie „lieb haben“ und „kuscheln“ redet, aber offensichtlich kein Verlangen verspürt, ihre warmen Gefühle auch über ihre Partnerin zu versprühen, schwieg sie. Stattdessen verlangte Karma von Afra, dass sie im Zorn leise und freundlich spricht. Und wenn Afra endlich richtig ausrastete, bestand Karma nur stur auf einer Entschuldigung, anstatt wissen zu wollen, was ihre Freundin so aggressiv macht. Sie wolle sich keine Probleme einreden lassen, war alles, was Afra als Antwort bekam, wenn sie Karma ihr verkrampftes Benehmen vorhielt. Und immer wieder als hilflose Begründung für ängstliche Verweigerung: „Ich brauch halt erst mal viel Vertrauen.“ Nach Wochen des Zusammenseins kann man diesen Satz natürlich nur noch als Ohrfeige nehmen.

 

Doch dann gab es wieder so Momente kurzen frechen Aufblühens bei Karma, in denen sie Sätze sagte wie: „Ich bin ein sehr körperlicher Mensch“, „Ich habe gerne Sex am abend“, oder „Ich kann gut lecken.“ Aber wenn Afra dann abends geleckt werden wollte, reagierte Karma beleidigt und abweisend, als sei die Äußerung dieses Wunsches eine unzumutbare Geschmacklosigkeit, die man nur in einem Porno ausspricht. Tatsächlich sah ihr Liebesalltag so aus, dass Karma sich in der Öffentlichkeit nicht berühren ließ, ihr im Bett jeden Abend den Rücken zudrehte mit der Begründung, wenn sie morgen arbeiten müsse, könne sie nicht die ganze Nacht durchpoppen, und diverse Körperteile von Afra nicht anfassen wollte.

 

„Besteht starke Scham in intimen Beziehungen fort“, hatte ihr der Engel mit dem Schlüssel zum Abgrund damals erklärt, „ist das ein Hinweis auf große Ängste, die sich nicht demaskieren wollen.“ Über diese Fachbuchformulierung denkt Afra nun schon länger nach. Irgendwie erschien ihr dieses Fragment einer Analyse sehr treffend, obwohl sie diese Art Sprache eigentlich nicht mag. Ihre eigenen Worte für Karmas Glücksfähigkeit waren „vernäht, vernarbt, verwachsen“.

 

„Und deine eigene Fähigkeit zum Glück?“ fragt der Engel mit dem Schlüssel zum Abgrund hinter ihr.

 

Afra ignoriert ihn. „Jetzt sitze ich auf dem Hochsitz und jage mit meinem Zorn“, denkt sie: „die Sprachlosigkeit, das Schweigen, die Schamangst.“ Womit natürlich Karmas Sprachlosigkeit, Schweigen und Schamangst gemeint ist. Denn man kann Afra sicherlich vorwerfen, dass sie in ihren Wünschen manchmal ein wenig rücksichtslos und herrisch ist, dass sie nicht genug Verständnis für depressive Empfindlichkeiten aufbringt  oder zu schnell zum Ziel kommen möchte. Aber verschämt, verschwiegen und defensiv ist sie mit Sicherheit nicht.

 

Außerdem ist sie sich ganz sicher, dass ihre Annäherungsversuche alle Farbwerte von verführerisch über herzlich, vorsichtig zu direkt, männlich und aggressiv ausprobiert haben, bevor sie resignierte. Wobei störend hinzukam, dass sie die Formen von Karmas körperlicher Verweigerung zunehmend als eine aggressive Strategie der Kontrolle empfand. In ihr nährte sich der Verdacht zu respektablem Ärger, dass Karma mit ihrer Rundumverhütung Macht über Afra gewinnen wollte – bewusst oder neurotisch, das war ihr vollkommen egal, zumal man sich natürlich auch über diesen Punkt mit einer Schweigerin nicht auseinandersetzen kann. Wenn Afra mal wieder einen cholerischen Anfall im Bett bekam, sah diese sie nur unbewegt und mit starren Gesichstzügen an und erklärte, sie fühle sich von Afra bedroht und wolle jetzt schlafen. Wer da nicht durchdreht, hat Valium im Blut.

 

Die seltenen Male, wo es dann doch mal zum Sex kam, wollte Karma "verführt" werden, denn anders könne sie es nicht. Das hieß dann, dass sie steif auf dem Rücken lag und Afra machen ließ. Das macht selbst geduldigere Liebhaberinnen, als Afra eine ist, total bocklos.

 

Lange schluckte Afra manche Kränkung, die mit einem Lächeln serviert wurde und ja überhaupt nicht so gemeint war, im Wunsch, mit Geduld und Worten Ängste zu verscheuchen. Der Vermeidung von Geringschätzung ist dieser Weg aber manchmal nicht sehr dienlich. Und bevor Afra ihre Achtung vor Karma wie vor sich selbst ganz zu verlieren drohte, sagte sie nach einem langen stressigen Spaziergang mit bohrenden Fragen gegen lähmenden Widerstand voll Zorn den pathetischen Satz: "Du bist eine Rasierklinge, die sich für eine Feder hält", und verließ die Beleidigte auf der Stelle. Im Ende ist Afra schließlich sehr konsequent. Von ihrer Seite hat sie nie wieder Kontakt zu Karma gesucht.

 

Der Regen wird stärker. Afra holt sich ein Bier aus einem lächelnden Laden und setzt sich unter die Markise auf den Fenstersims. Die Menschen hasten vorüber. Manche kennt Afra noch vom Sehen. Zum Beispiel Ente, den hektischen Suchtmenschen und Fahrraddieb, der nach zwanzig Jahren exzessivem Input aller denkbarer Gifte immer noch lebt. Oder Robert Magdeburg, den Schauspieler, der im Theater zum Lügnerstuhl gerade in "Das geteilte Selbst" auftritt. Dann kommt Meja Mwongi, einer der intelligenteren Freunde von LKWs Bräutigam Platinow, Kennzeichen: spargelgelbe Dreadlocks bis zum Gürtel. Er spielt Bass in Platinows Band und schreibt nebenher stark pornografische Sensationsromane, die er auch noch selbst illustriert. Kann aber sich und die debile Musikbranche mit Ironie betrachten, ohne deswegen von ihren Annehmlichkeiten zu lassen.

 

"Na, was macht die Liebe?", fragt er lachend.

 

"Stückwerk, nichts als Stückwerk", antwortet Afra. "Bin irgendwie immer die letzte nach einer langen Reihe von Katastrophen. Und selbst?"

 

"You know, ich steh auf dumm, aber fickt gut. Das ist auch nicht so leicht."

 

Sie reden darüber, dass LKW Platinow den Junggesellenausstand verboten hat, aus Angst, am nächsten Tag eine Drogenleiche mit Alkoholfahne vor den Standesbeamten zu schleifen. Meja erzählt ihr, dass die Band Platinows Hass-Song-Top-Ten so neu arrangiert hat, dass es klingt wie von seinen eigenen Platten. Dann singt er ihr eine Punkversion von "A New Plague Has Come" vor.

 

"Ich weiß, das ist von deiner Schwester, aber so ist es doch ganz erträglich oder?"

 

Afra zieht ein Gesicht, das alles sagen kann.

 

Sie leeren noch eine Dose gemeinsam, dann nimmt Meja sie mit zu einer Party an der Hafenstraße. Doch schon während sie die Treppen zum vierten Stock hochsteigen und Meja wasserfallartig über ihre neue Platte, den Anwalt seiner Exfrau und die Korruptionsaffäre bei Siemens redet, merkt Afra, dass sie eigentlich viel zu stimmungsklamm für eine Party ist. Doch drinnen verrichten Musik, Gedränge und hormonelle Düfte zunächst ihr kalkulierbares Entgiftungswerk. Erwachsene Menschen unter dem Einfluss der verschiedensten Stimmungsaufheller schwitzen Gier und Erwartung aus. Florierende Bässe und Dur-Akkorde bewegen die Ärsche. In manchen Ecken sind die Hosen und Tops bereits unten und der sexuelle Teil der Nacht nimmt seinen Lauf. Meja hat sich eine neue Gesprächspartnerin gesucht, Afra steht ein wenig unschlüssig herum, kennt niemanden, will aber eigentlich eh nicht reden, nimmt sich ein Bier, sucht sich einen Türrahmen und wippt ein wenig mit den Knien zum zulässigen Betriebsdruck der Feierlichkeit. Ein leuchtendes System der Ereigniserzeugung, körperlich bis zum Platzen. Tolle Erfindung eigentlich, aber als ein testosterongetriebener Blonder mit Motörhead-T-Shirt und dicker Haut sie zu fixieren beginnt, verabschiedet sie sich auf französisch.

 

Draußen hat der Regen aufgehört. Der Engel mit dem Schlüssel zum Abgrund befreit sich aus einem Verteilerkasten und sieht sie fragend an: "Wohin?"

 

"Runter zum Wasser."

 

Ihrem treuen Begleiter fliegen die Blauracken in die Ohren, er sieht mit Strenge auf ein paar leichtsinnige Nachtschwärmer, die ihre Blicke auf Afras Brüste heften, und stellt seinen Mantelkragen auf.

 

"Warum bist du bloß so unter Strom?" fragt er mit aller gebotenen Höflichkeit zu Afras verspanntem Rücken hin.

 

"Mir gefällt die Einsamkeit nicht", knurrt sie.

 

"Immer noch Karma?", fragt der Engel mit dem Schlüssel zum Abgrund etwas scheinheilig, als hätte er nicht die ganze Zeit Afras Gedanken protokolliert.

 

"Weiß nich. Eigentlich nicht. Aber solange niemand sonst auftaucht, machts das auch nicht besser. Und du weißt, ich bin so langsam im Herz."

 

"Aber du nimmst auch immer alles gleich so ernst. Wenn dir jemand mal was Nettes will, fürchtest du gleich Bindungskomplikationen. So wird das doch nie was mit deinem lustigen Glück."

 

Afra zuckt mit den Schultern. Sie erreichen das Hafenbecken. Die Stadt sieht hier aus wie ein kapitalistischer Gedanke, der den Faden verloren hat. Auf der gegenüberliegenden Seite die orange-weiß leuchtende Betonwüste mit dem vollautomatisierten Kranballett, effektiv gedacht und doch bezaubernd grotesk anzusehen. Auf dieser Seite abbröckelnde Kaianlagen, aus denen Birken wachsen, vernagelte Halbruinen und Müllhaufen, von flackernden Straßenlaternen schlecht beschienenes Kopfsteinpflaster mit schwarzen Löchern und wabbernde Klubs. Afra sucht sich eine Kaitreppe, an der noch ein paar indische Frauen nach einem sehr langen Arbeitstag in der informellen Wirtschaft ihre Saris im Flusswasser waschen, und hockt sich nieder.

 

"Setz dich neben mich", empfiehlt sie dem Engel mit dem Schlüssel zum Abgrund. Er tut wie ihm geheißen und reicht ihr unaufgefordert ein kaltes Bier.

 

"Ich spüre immer diesen Zorn in mir. Nicht zielgerichtet, aber beständig. Er umkreist mein freundliches Zentrum wie ein Zwillingsplanet, hat also eine große Anziehungskraft."

 

"Wogegen richtet er sich?"

 

"Gegen ein Mädchen auf der Straße, das sich übertrieben zerbrechlich gibt, um ihren Freund zu steuern. Auf eine Frau, die sich unbedingt noch in den Bus quetschen muss, zu ihrem Mann laut über meinen störenden Rucksack spricht, mir dann aber ihre fette Tasche in die Seite quetscht. Auf die dauernd nachwachsende Unzufriedenheit fetter Menschen. Auf muttifizierte Töchter, die die Schuld an ihrem Unglück immer bei anderen suchen. Auf Billigarchitektur und Eierschauckler. Auf Female Classics und Männer im Flugzeug. Auch Rauchen, Saufen und übers Klimakterium reden. Auf lautes Telefonieren im Zug, erzbanale Antworten und die Anfluglautstärke von notgeilen Schwätzern."

 

"Ich verstehe. Du bist einfach ein bisschen gereizt. Dir fällt nichts Neues ein, deine Schwester hat unglaublichen Erfolg, dein Vater ist das größte Arsch, das rumläuft, und niemand liebt dich. Da gibt es ein gutes Mittel gegen: mach irgendetwas."

 

Afra nickt und nimmt einen tiefen Schluck: "Und außerdem heiratet LKW morgen diese taube Nuss und zieht mit ihm nach Sylt."

 

"Warum fandest du eigentlich LKW nie scharf. Optisch ist die doch dekorative Sex-Architektur ohne Schnitzfehler und Schwitzflecken."

 

"Frage selbst beantwortet, Vögelchen. Mit LKW kann man lästern und Spaß haben, bis der Pavian platzt. Das beschmutzt man nicht mit anderen Zwecken."

 

"Kannst du das nicht persönlicher ausdrücken?"

 

"LKW ist nicht schwach und nicht schüchtern. Sie kennt keine Scham und hat soviel Lob aufgesogen, dass es ihr nie in den Sinn käme, gründlich an sich selbst zu zweifeln. LKW hat nie gelitten, zumindest nicht genug, dass ich sie begehren könnte. Mich erregen nun mal verletzte Seelen. Suchende, die in ihren Krisen etwas Besonderes über sich gelernt haben. Ich liebe die Geborgenheit der Ängste, die immer zweifelhaft sind. Das ist mein Kitzel, mein Verlangen. Da kann ich mich öffnen und das Glück kidnappen. LKW aber ist kein Mensch. Sie hat nur schöne Erinnerungen."

 

Fern hinter dem Containerhimmel kann man ein Gewitter über das Meer kommen sehen. Etwas Wind reitet dem Unwetter voraus. Einige Kneipen räumen ihre Bierbänke zusammen, die Gemeindeordnung will es so. Der Schlaf ist dem Gesetz noch immer heilig. Die Blauracken fliegen auf die Pontons und Dalben und hacken nach den Möwen, das orange-weiße Scheinwerferlicht taucht es in die Farbe der industriellen Nacht.

 

"Eigentlich habe ich gar keine Freunde. Ich tauge nicht zu so was. Dazu sind mir nette Gespräche über neue Bands und Filme, über Männer, Fußball und tollen Urlaub ein viel zu großes Gräuel. Ich habe mit den Menschen einfach nichts zu reden. Ihre Entdeckungen und Krisen öden mich an. Ihre Fehler sind so voraussehbar, ihr Leiden so einfach zu verstehen. Und das alles kommt mit LKW nicht vor. Die ist so snobistisch und abgebrüht, die muss ihre Gedanken nicht in Ordnung bringen. Folglich können wir ohne Rücksicht gemein sein. Außerdem ist sie einfach nicht empfindlich oder leicht beleidigt. Wenn du ihr sagst, dass sie sich gerade wie ein Arsch benimmt, lacht sie, entschuldigt sich und hört auf. Das ist wohltuend."

 

"Und Vertrauen? Kannst du dich auf sie verlassen? Wäre sie für dich da? Würdest du ihr Geheimnisse sagen, deine dunklen und traurigen Seiten zeigen?"

 

"Eher nicht. Man schämt sich ja doch so leicht, wenn man es mit souveränen Personen zu tun hat."

 

Es fängt wieder an zu tröpfeln. Der Engel mit dem Schlüssel zum Abgrund breitet über Afra seine Flügel aus. Auch seine Blauracken kommen zurück, versammeln sich unter dem großen Schutz und stecken die Köpfe ins Gefieder. Afra schweigt im stärker werdenden Rauschen. Die Inderinnen gehen nach Hause in ein zwischenmenschliches Brauchtum mit sehr wenigen Handlungsalternativen. Afra nimmt das nächste Bier.

 

"Ich langweile mich so schrecklich. Es ist so viel Wiederholung, so viele anstrengende Gereiztheiten, so wenig Überraschung."

 

"Musst du immer alles so klar aussprechen", mault der Engel mit dem Schlüssel zum Abgrund: "Wo bleibt da das schöne Geheimnis, die Kapitulation vor der Deutungsfreiheit, die Freude an der Interpretation."

 

"Tut mir leid. Ich bin das so gewohnt." Afra zuckt resigniert mit den Schultern. Es schlägt zwei Uhr, die Stunde, in der die japanischen Götter baden.

 

"Überrasche dich selbst Afra. Tue Dinge, denen du sonst ausweichst. Gehe neue Wege. Es wartet niemand auf dich. Du kannst dich frei mit dir selbst beschäftigen."

 

"Seit wann nennst du mich beim Namen?" Afra sieht ihrem Begleiter in die verschatteten Augen. Der summt wieder leise. Ich glaube, es ist was von Depeche Mode.

 

 

 

 

 

 

 

II

 

 

 

 

 

Afra wacht vom Nuscheln der Mailbox im Regal auf, reif für tiefes Morgengrauen. Es ist Heiti-Heiti, der ihr mitteilt, dass er die nächsten Tage Harland St. Jude bespaßen soll und seine Nummer hinterläßt. Beim Wort "bespaßen" hat Afra schon gleich wieder überhaupt kein Bock mehr auf das Abenteuer. Sie legt sich wieder hirn, kramt etwas in ihren nächtlichen Träumen. Nichts Aufregendes dabei. Geschichten um ihre Ängste vor Krankheit und ihre Sehnsucht nach Liebe und Sex, Menschen, die in ihren Träumen so viel besser aussehen, als in echt, Orte von bizarrer Architektur, in denen sie ihre Vorstellung von Exotik und Präsenz wiedererkennt. Das Übliche. Sie überlegt, ob sie masturbieren soll, um besser in die Hocke zu kommen, aber dann ist ihre Blase doch so dringend voll, dass sich das Problem von alleine löst.

 

Auf dem Klo liegt die Artus-Sage und die Biografie ihres Gitarristen Stone, der leider nur pseudo-entkrampft zwischen lockerem Sprachstil und pathetischen Selbstvergewisserungen mäandert. Das wirft natürlich die wichtige Frage nach der richtigen Dosierung von Distanz im Leben und darüber Reden auf, aber Afra würde sich gerne darum drücken, ihm zu seinem Buch ihre Meinung zu sagen. Dann fällt ihr wieder LKWs Hochzeit ein. Eine Menge Menschen, vor denen es ihr graust. Galeristen und andere Geschäftssinnige, die trotz staatlicher Sanktionen ihre Arbeit am liebsten auf privaten Feierlichkeiten einfädeln, andere Künstler, vielleicht auch Karma. LKW hatte sie eingeladen, als sie noch zusammen waren, und Karma fühlte sich bei ihrem letzten Telefonat mit einer gewissen Sturheit persönlich gemeint und betonte sehr, hingehen zu wollen.

 

Dazu LKWs Vater, ein Ex-Hedge-Fond-Manager und aktueller Groß-Umwelt-Aktivist, der immer am lautesten über seine eigenen politisch unkorrekten Witze lacht. LKWs dicke Internatsfreundin Susi, ihre fleischgewordene Versicherung, dass sie doch ein Gewissen und normale Gefühle hat, eigentlich aber eine hirntote, verwahrloste Schmarotzerin mit Hippie-Penetranz, die mit ihren Clocks über das Pflaster schlurft. Und dann auch noch Ferrand Hosti, der Afra seit Wochen damit nervt, dass er sie für seine neue Underground-Komödie über Paul Abraham (den Biologen, der entdeckt hat, dass das Christentum von einem Virus verursacht wird) als Mutter Maria casten möchte, sowie der Wetterbericht mit einer katastrophalen Vorhersage. "Ist das Wetter schlecht, findet der Krieg im Saale statt", grummelt Afra und beginnt sich durch Tee und Knäckebrot mit Orangenmarmelade auf Touren zu bringen. Da sie keine Verpflichtungen bei den Vorbereitungen hat, weil LKW einfach zu reich ist für so was – und Susi ihre Trauzeugin ist –, bummelt sie. Um eins ist die Trauung, ein wenig früher sollte sie schon da sein. Jetzt ist es zehn.

 

Sie schenkt LKW ein Kästchen mit Arnaqapsaluk, der starken weiblichen Kraft der Eismeerschamanen, die einmal ein Mensch war und jetzt auf dem Grund des Meeres singt. Das hat ihr der Engel mit dem Schlüssel zum Abgrund besorgt, der draußen auf der Terrasse im Nieselregen auf der Gartenbank sitzt und seine Blauracken füttert. Afra frühstückt weiter. Ihr ist nicht nach Gesellschaft. Sie spürt auch keine Sehnsucht nach ihrem Atelier. Gelegentlich ist sie in den letzten Wochen noch hingegangen, hat lustlos an was rumgeschraubt, alte Aufnahmen angesehen, ein paar Skizzen und Notizen gemacht, ohne Tempo, ohne Schneid, frustriert von sich und der Inspiration eine Fremde. Unproduktive innere Unruhe hatte sie dann zum Shoppen oder ins Kino getrieben. Ihre Erzählkraft ist erlahmt. Die Welt, wie sie sie arrangiert hat, scheint ihr abgeschlossen und fest gegründet. Kein Spiel. Alles schon dagewesen. Vision obsolet.

 

Der Engel mit dem Schlüssel zum Abgrund klopft gegen die Verandatür. Tropfnass möchte er gerne rein. Afra ist gnädig, leiht ihm ein Handtuch.

 

"Immer noch nicht besserer Laune?" Afra schleudert einen Hausschuh nach dem Flügelwesen, den es mit dem Mund auffängt. Dann bestellt sie sich beim Hauswart einen Galao und geht duschen.

 

"Was soll ich anziehen?", verlangt sie zu wissen, als sie nackt und mit Handtuch um den Kopf im Ankleidezimmer steht.

 

"Wie möchtest du dich denn fühlen?"

 

"Unsichtbar, und trotzdem elegant."

 

"Entscheide doch nicht immer so defensiv. Ich denke, du suchst erotische Ansprache."

 

"Auf LKWs Hochzeit? Wo jedes Gespräch einen Rückpass in die Vergangenheit bedeutet oder ein Geschäftsrülpser wird? Wo alle Freundlichkeit aus Hab-acht kommt, aber Unfreundlichkeit wie ein Schubser gegen die Braut verstanden wird. Geht es noch verkrampfter?"

 

Es klingelt am Aufzug, Afra öffnet dem Hauswart, Jodie, der Transvestit, der nur Gelb trägt und sich rührend um seine Mieter sowie ihre Hauspflanzen und -tiere kümmert. Dafür ertragen sie dann auch seine kleine Geschwätzigkeit.

 

"Morgen Jodie."

 

"Morgen My Lady. Wusstest du, das Moliere das Material für seine Dramen beim Friseur gesammelt hat? Er verbrachte viel Zeit im Wartezimmer und schrieb dann alles, was er da gehört hat, in seine Komödien. Ist das nicht gemein? Man denkt doch, man bleibt anonym, wenn man seinem Figaro das Herz ausschüttet. Und dann geht man ins Theater und sieht sich plötzlich selbst auf der Bühne, zur Karikatur verzerrt. Brrrrrr. Ich hoffe, das geschieht mir niemals!"

 

"Über was lästerst du denn so beim Friseur?"

 

"Oooch. Über andere Tunten, den Antiquar bei Saul & Webbster, der sich immer zu seinen Gunsten verrechnet, die neue Boutique von Fancy Foe, die so scheußlich geschmacklosen Transenfummel an die Heten verkauft, und über die Vernissage bei Brot und Spiele, wo es wieder nur Aldi-Weißwein und Salzstangen gab. Dabei machen die Millionenumsätze mit ihren Künstlern. Und weißt du, was Madonna gemacht hat? Ein Video im Strickkostüm."

 

"Ich habs gesehen."

 

"Das geht jetzt doch gar nicht. Ich meine, die Frau ist seit achtzig Jahren zwanzig, und jetzt das. Ach, und was ich dir noch erzählen wollte: Ich war ja gestern unten am Fluss zum Knutschen, mit einem sooo süßen Jungen aus dem Musical "Leni Riefenstahl", und da bin ich doch tatsächlich über deinen alten Freund Jamie Hapur gestolpert. Der lag da stockbesoffen schlafend im Sand, sah aber immer noch ganz appetitlich aus. Die Kotze, die ihm aus dem Mund lief, war allerdings nicht so schön."

 

"Danke fürs Sagen, Jodie. Mir wird jetzt ein klein wenig kühl hier. Grazie für den Kaffee. Bye."

 

Leise summend verschwindet der Hauswart wieder in der Tiefe, wohin Afra auch die Erinnerung an Jamie hinwünscht. Noch so ein unerledigtes Stück Gefühlskomplikationen, das ist zuviel für solch einen Morgen. Und auch der wird vermutlich bei LKWs Hochzeit auftauchen. Schließlich war er erst mit ihr und dann mit Afra zusammen, und LKW hat überhaupt keine Skrupel, ihre Exen zur Trauung einzuladen. Für LKW ist "Vorbei" ein Wort mit echter Bedeutung, nicht so eine schwelende Kränkung mit dem Preis lähmender Vorsicht, wie Afra es kennt. Zwar beneidet sie LKWs Egoismus nicht als Lebensart, aber es macht doch so vieles einfacher.

 

"Bist du nicht selbst ein sehr egoistischer Mensch?", fragt der Engel mit dem Schlüssel zum Abgrund von der Pantry aus, wo er für Afra Spiegleier im Toast brät. "Welche deiner Beziehungen der letzten Jahre hat denn die andere Seite beendet?"

 

"Hunger", mault Afra und setzt sich immer noch nackt und mit dem Rücken zur Küche auf den Barhocker. Sie kaut lieblos auf dem Frühstück rum und inspiziert die Wohnung: "Mir gefällt die Einrichtung nicht mehr“, stellt sie dabei fest: „Ich will wieder so leben wir früher. Nur vielleicht ein bisschen größer. Ich komme mir hier vor wie in einem Einfamilienhaus, nur in der Vertikalen. Das ist alles so anständig schön, so ordentlich aufgeräumt und wohl ausgesucht. Es riecht gut, der Blick ist toll, es gibt einen Arzt im Haus und die Möbel sind alle Super-Design. Zum Kotzen. Ich bin nun mal eine Schlampe und will eine bleiben. Also kann ich nicht leben wie in einer Homestory für "Boredom de luxe clever". Ich sehne mich nach versifften Badezimmern und schmutzigem Geschirr im Stapel, nach Nachbarn, die gegen die Wände donnern, wenn ich nachts um vier meinen Verstärker aufdrehe, und Balkonpflanzen, die ab und zu mal braun werden.“

 

Dabei nickt sie sich selbst zustimmend mit dem Kopf und dreht sich auf dem Hocker in alle Richtungen.

 

„Das Ankleidezimmer kann von mir aus da bleiben und der Pool auch. Aber diese Pantry hier, diese schönen Kacheln und Fliesen, der immer spiegelblanke Gasherd und die Sofagarnitur von Marcel Wanders. Das bin ich nicht. Ich will zurück zu meinen Wurzeln, wo ich glücklich war vorher. Ich glaube, ich wollte mit dem ganzen Scheiß hier nur irgendwem was beweisen, Celeste, meinem Alten, mir selber, keine Ahnung. Aber ganz im Ernst: mich wiedert dieser Luxus restlos an. Ich will wieder schmutzige Fensterscheiben, Dreck unter den Fingernägeln und getrocknete Fettreste. Und ich glaube, ich habe schon lange keine Musik mehr beim Arbeiten gehört."

 

"Du arbeitest ja auch schon lange nicht mehr."

 

"Weißt du noch, als ich in der Fabriketage am Südstern lebte. Da war immer neueste Dröhnung vorhanden. Es kamen die Jungs von unten und fragten, was das für Musik sei oder brachten selbst neue Files mit. Es war im Sommer brutal heiß und im Winter arschkalt. Wir haben regelmäßig Atelierparties gefeiert, wo nie was weg gekommen ist. Einmal, der Blaue Mann auf Glas, aber der war dann ja auch irgendwann wieder da. Lag unter dem roten bekleckerten Diwan mit den kaputten Federn, als hätte ich ihn selbst darunter vergessen."

 

"Damals warst du schon in Jamie verliebt, aber er hat deine sehr sichtbaren Gefühle beharrlich ignoriert."

 

"Ja, ja. Aber die Atmosphäre war gut. Ich bin mittags aufgestanden und wusste immer, das wird was mit dem Tag. Große Thermoskanne Kaffee gemacht, den anderen Tschüß gesagt, wenn sie mit ner Flasche Rotwein aufs Utensilienen-Ufer gezogen sind, und dann habe ich gemalt, gebaut, bin mit der Camera losgezogen, habe gelesen und den Gips entdeckt. Und der Wind wehte von rechts nach links durchs Atelier. Wenn es regnete, platterte es unten im Hof laut. Ich habe zu viel gegessen und getrunken und war jeden Abend aus. Und irgendwie gab es da weniger Langeweiler. Alle hatten ihren Knall, aber diese Macken waren noch nicht so entsetzlich seriös und professionalisiert. Weißt du noch den ganz harten Redskin von oben, der alleine in seiner riesen Etage wohnte, und warum? Weil er jeden Tag mit seiner Mutti telefonierte und sich dafür so geschämt hat, dass er die teure Miete lieber alleine bezahlte. Oder die Schweißer-Rocker unten, die der Band unten im Keller irgendwann während der Probe die Stahltür zugelötet haben, dabei war der Punk nichts gegen den Krach, den die mit ihrer Werkstatt veranstaltet haben und die knatternden Harleys, die dauernd in den Hof gebrettert sind. Ne Menge komische Typen. Der Langhaarige, von dem niemand so recht wusste, wovon er lebt, der sich dann eines Tages vom Dach abgeseilt hat und bei dem Architekten, mit dem er zusammenwohnte, durch die Scheibe mit der Axt kam. Ich vermisse das. Ich vermisse den Gestank von Kohleöfen und die Parties in den besetzten Häusern, ich vermisse sogar den blöden Hund, der bei uns wohnte und irgendwann Rattengift gefressen hat."

 

"Aber das wird alles nie mehr so sein."

 

"Klugscheißer!" Afra lässt den halb gegessenen Toast samt Teller auf die Pantry knallen und geht zurück ins Ankleidezimmer. Während der Engel mit dem Schlüssel zum Abgrund den kleinen Abwasch macht, fällt Afra in die Garderobe einer Rockabilly-Schwuchtel. Schwarze Westernstiefel mit rotem Flammenmuster, schwarzer enger Lederrock mit Fransen, goldenes Glitzerhemd weit aufgeknöpft und offene schwarze Weste mit rotem Flammenmuster. Dazu ein schwarzer Stetson und eine Lederschnurkrawatte um den nackten Hals.

 

"Wenn du meinst", urteilt der Engel mit dem Schlüssel zum Abgrund und zieht eine Braue hoch.

 

"Ich meine! Und jetzt mach mir die Haare während ich mich schminke."

 

Nach dieser Prozedur beweist der Engel mit dem Schlüssel zum Abgrund wieder seine prosaische Natur: "Ganz schön nuttig."

 

"Ja, ne? Super!", freut sich Afra. Sie posiert vor dem Spiegel, lacht, probiert, wie weit das Hemd offen stehen kann, bevor die Brüste raus fallen, und zieht Grimassen. Der Engel mit dem Schlüssel zum Abgrund summt eine passende Melodie, vermutlich von Dolly Parton, und packt das Geschenk ein.

 

Auf dem Weg zur S-Bahn verliert sich aber Afras gute Laune schon wieder. Vor dem Haus stehen tausende Gaffer im Regen und warten darauf, dass das Hochhaus neben Afras Hochhaus gesprengt wird. Die Menschen gehen nicht zur Seite, Regenschirme stoßen aneinander, und morgen muss man den Staub von den Scheiben und dem Dachgarten putzen. Und das Wasser im Pool ist auch hin. Wenigstens das zu verhindern, ruft Afra Jodie an, aber zu spät. Während sie am Fahrkartenautomaten steht, hört sie den lauten Rumms und spürt das Erdbeben.

 

"Fickt euch alle, ihr Arschgeigen" schnauzt Afra so laut durch den Bahnhof, dass die Grottenolme neugierig ihre augenlosen Köpfe aus dem Gleisbett heben. Im S-Bahn-Wagon sieht sie sich dann um, stellt fest, dass sie hier mit ihrem Kostüm absolut deplatziert ist, und schämt sich, obwohl hier Leute halbnackt, in Mönchskutten, mit HipHop-Outfit von Wal-Mart, eingehüllt in Bettdecken oder mit weißer Kapuze und Clown-Nase herumstehen, dazu Männer mit Krawatte und Aktentasche sowie Lady-Gaga-Lookalikes. Wer sollte sich hier also schämen? Trotzdem fühlt Afra sich wie eine Bettnässerin direkt nach dem Aufstehen. Denn ihre Kleidung ist sehr teuer und jeder sieht das. Sie möchte etwas zur Entschuldigung tun, aber der Engel mit dem Schlüssel zum Abgrund verhindert das, indem er allen Insassen Flatulenzen schickt. Laut pupst und knattert es schlagartig im gesamten Abteil. Selbst Frauen versagen beim An-sich-Halten und zischen mehr oder weniger laut Abluft aus dem Po. Glücklich jene Damen, welche sich in weiser Voraussicht solcher Unfälle einen Hund gekauft haben, auf den sie ihre eigenen Blähungen mit empörten Wedeln hinter seinem Schwanz und spitzen Tadellauten nun schieben können.

 

Doch eigentlich ist die Notlüge gar nicht nötig, denn wo sich alle gleichzeitig schämen, verliert das schlechte Gewissen seine Macht und erleichtert sich in Gegacker. Obwohl es nun entsetzlich stinkt, springt niemand bei laufender Fahrt auf die Gleise. Vielmehr lächeln sich die abgekühlten Temperamente des Großstadtlebens gegenseitig an und fühlen einen charmanten Moment lang die menschliche Zusammengehörigkeit in Schwäche. Das kuriert, wie beabsichtigt, auch Afra von ihren Komplexen. Und dann ist auch schon ihre Station: Wedding – die seelige Entleerung des Gefühls in die normative Schikane.

 

"Vielleicht sollte ich zum Schutz irgendeinen knackigen Kerl mitnehmen, der mir die unangenehmen Begegnungen vom Hals hält."

 

"Und wo willst du den jetzt auflesen?", antwortet der sie begleitende Bedenkenträger: "Hier im S-Bahnhof?"

 

Afra sieht sich um und seufzt. Wer hier gut aussieht, ist selbst auf dem Weg zu einer Hochzeit. Wau-Uta, der Baumfrosch, wäre zwar ein interessanter Gesprächspartner, aber er lächelt dabei so monoton und besitzt einfach keine respekteinflößende Größe. Und die Herren von der S-Bahn-Polizei sind alle fett und tätowiert und waren vermutlich noch nie am Tageslicht. Also lässt Afra sich willenlos mit den Massen an die Oberfläche rollen, wo sie sich hinter der Ausgangssperre in die Konventionsschlange einreihen muss. "Mooslehm", "Buddha", "Ironisch-katholisch", "Gothic", "Horoskop- und PSI-gläubig", "Pharmazie", "Mode", "Jüdisch", "Folgenlose Schwärmerei" etc. Afras ist die Glaubensschlange "Überlegenheit von Naturwissenschaft und Luxus".

 

Hinter dem Check-In spielt eine Mardi-Gras-Band auf einem Podest schmissige New-Orleans-Märsche. Pfauenvögel stolzieren zwischen Las-Vegas-Fassaden und Springbrunnen umher, Gewächshauspflanzen verbreiten die angenehme Unterwürfigkeit der versklavten Natur. Bildhübsche Studentinnen und ihre athletischen Kommilitonen in hellblauen Kostümen weisen den Gästen den Weg in die entsprechenden Paläste oder begleiten sie auf Wunsch sogar dorthin. Alle menschliche Grausamkeit ist in diesem Empfangsgebiet karamelisiert zu der süßen Kindsform herzlicher Höflichkeit. Nichts, wogegen Afra sich jetzt wehren möchte.

 

Sie nimmt ein quietsch-lila Turnierpferd und reitet am Bach entlang den Hügel hinauf zum "Palast der beerdigungslosen Menschheit", dem größten und teuersten Sozialraum des heutigen Tages. Unter ihr breitet sich das schier endlose Relief menschlicher Behausungen von Tinte bis zum Horizont aus. In manchen Gebieten der geteilten Stadt regnet es noch, in Wedding aber scheint kurzzeitig die Sonne auf das schöne Cowgirl in der "unberührt" komponierten Natur. Erhaben fühlt sich Afra, während sie ihren Blick auf die anderen Hügel der Stadt streifen lässt, die sich aus jenen Stadtteilen von Tinte erheben, in denen es keine Dicken, keine neuen Häuser und keinen Strom gibt. Dort genießen die Menschen die herrliche Sicht beim Arbeiten, denn die anderen künstlichen Berge sind Deponien. Manchmal, wenn der Wind von Osten kommt, riecht man das, aber in der Regel kennt man die Müllberge nur aus dem Fernsehen. Obwohl die Menschen, die dort arbeiten, sehr arm und sehr krank sind, ist das Durchforsten des Großstadtmülls nach wieder verwertbaren Materialien von Hand ein Beruf von großer Nachhaltigkeit und wird deswegen stolz im staatlichen Programm porträtiert, wo der verantwortungslose grüne Journalismus sein Refugium hat.

 

Afra reitet weiter durch Mohnwiesen und Bienenstädte, unter Wasserfällen hindurch, an japanischen Teepavillons und ökologischer Schweinezucht vorbei über die Baumgrenze, wo ein Display im Fels über einer unscheinbaren Holztür mit abblätternder blassgrüner Farbe ihr anzeigt, dass sie nun zu Fuß weiter gehen muss. Neben dem Eingang wartet ein smarter junger Mann, der Panikknöpfe an die ankommenden Gäste verteilt, denn zu LKWs Hochzeit gelangt man nur durch einen Parcours des Künstlerduos Kutscher & Sputnik.

 

Einzeln werden die Gäste in ihrer festliche Garderobe in den dunklen Irrgarten geschickt. Hier riecht es nach pilzigen Wänden und faulenden Kartoffeln, mattes gelbes Licht beleuchtet niedrige Gänge und Kellerräume mit feuchtem Mauerwerk, in denen sich unter Decken des Bundesheeres auf Strohlagern irgendetwas bewegt, Ratten einen Pferdekadaver verspeisen oder kaltes Wasser auf den Kopf von gefesselten, nackten Gefangenen tropft. Hinter einer Plastikplane liegen abgenagte Chinesen und britische Expats auf fleckigen Matratzen und rauchen Opium im grellen Blaulicht der aufrecht stehenden Polizeiautos, auf einem Monitor erzählt der bekannte Talkshow-Moderator Wanzen-Franz vom bevorstehenden Weltuntergang in fünf Milliarden Jahren und wie man sich mit einem Trank aus Oktopus, Zedernharz, nassem Fisch und Hundehaaren dagegen schützen kann. An verschiedenen Stationen werden die Gäste gescannt und von schleimigen Fotografen geblitzt. Merkwürdige Geräusche umfangen die Ohren, Schritte über dem Kopf, Knurren im Magen, Inter-City-Omis, die sich vollkommen ohne "und dann sag ich... und dann sagt sie" über Konfliktbewältigung in der Hausflurreinigung unterhalten.

 

Leichtes Schwanken des Bodens macht zudem nicht nur diejenigen fertig, die auf dem Weg zur Hochzeit schon das eine oder andere geistige Getränk aus dem Flachmann zu sich genommen haben. Entsprechend gleiten die zum Jubeln Bestellten auf der einen oder andere Lache mit Erbrochenem aus, wenn sie es nicht selbst verursachen. Trotzdem drücken nur zwei drei Schwangere und die Aggro-Rapper aus Platinows Freundeskreis den Panik-Knopf, woraufhin das Licht angeht, beruhigende Geigensoße über sie gegossen wird und Calistus Munbar persönlich sie freundlich empfängt, tröstet und über einen Seitengang direkt zum goldenen elektronischen Hofmarschall bringt, wo sie ihre Visitenkarte abgeben und dann einzeln zum Bussi-Bussi antreten müssen.

 

Nicht so Afra. Als Kollegin und regelmäßige Besucherin von Kunstausstellungen unterliegt sie eher der Gefahr, andere Menschen mit ihrem Kennerblick zu nerven, und selbst im Dunkel der Gänge des Irrgartens wäre ihre gelangweilte Konversation mit dem Engel mit dem Schlüssel zum Abgrund über die Kunst und die richtige Art und Weise gut zu küssen, eine Zumutung für die anderen Gäste, wären denn welche in Hörweite. So können weitere aggressive Schwingungen zu denen vermieden werden, welche jene Besucher bereits verströmen, die auf glitschiger Kotze ausgerutscht sind und sich nun umziehen müssen. Aber eine wilde Reiche will auf ihrer Hochzeit ja auch nicht nur Reh- und Zwiebelaugen sehen.

 

So erreicht Afra den goldenen elektronischen Hofmarschall ganz entspannt und reiht sich geduldig in die Begrüßungsschlange ein. Zwerge auf Giraffen reitend huschen hier hin und her und verteilen Petit Four, Salzstangen und Diät-Cola, Spielkarten und thailändische Masseusen. Blinkende Anzeigentafeln geben wichtige schwule Hinweise wie "Handy aus, du Arsch", "Keine verdeckten Geschäftstätigkeiten während der Zeremonie" oder "Wie siehst du denn aus?" Büfett-Nomaden, Zigaretten-Schnorrer und gewerbliche Prostituierte werden aus der Schlange gepflückt und in den Flieger zu ihrem Heimatviertel gesetzt. Minderjährige machen den obligatorischen Drogen- und Aids-Test.

 

Um sich das Warten zu verkürzen entscheidet Afra sich für "17 und vier" und wählt den plastischen Chirurgen von LKWs Mutter als Spielpartner, eine graumelierte Seglerfresse mit dem professionellen Charme vollständigen Unbeteiligtseins. Nach zwanzig Minuten hat der eine LKW-Ladung Cabinet de Bauerntod an Afra verloren, aber dann sind sie auch schon dran.

 

Das glückliche Paar steht unter einem Baldachin aus Pimpinelle, Borretsch, Kresse, Kerbel, Schnittlauch, Petersilie und Sauerampfer. LKW trägt ein tief dekolletiertes Kleid aus flügelschlagenden Dompfaffen und eine Schleppe aus brennendem Pansen. Ein Ring aus den rosa Panzern des Jungfernkäfers hält ihren Schleier aus dem goldenen Spinnweb der Araneus Milliardus, der Brautstrauß besteht aus einem Korb mit duftenden Himbeeren.

 

"Du siehst bezaubernd aus", entfährt Afra die gängigste Plattitüde dieses Tages. Sie traut sich nicht, ihre Freundin zu drücken, aber die ist längst routiniert in der Befangenheit ihrer Gäste. Sie liftet den Schleier für einen gehauchten Kuss und lobt ihrerseits Afra: "Voll nuttig. Echt geil." Dann drängelt auch schon die Schlange von hinten und Afra tritt einen Schritt nach links, um dem Bräutigam ihre Aufwartung zu machen.

 

"Hi Platinow. Ordentlich die Hose voll?" In irgendwie schlaffer Körperhaltung und bemitleidenswerter Überforderung quält dieser sich von einem Lächeln zum nächsten. Er trägt einen schlichten schwarzen Anzug auf Frauenwimpern auf der nackten Haut, die Haare sind zurück gegelt, die Doc Martens notdürftig geputzt. In der Linken hält er den diamantbesetzten Totenschädel von Damien Hirst. Hinter ihm stehen zwei runzelige Schäfer, die nach jeder Grabbeigabe aus Lippenstift auf seinen Wangen das Kosmetikrot mit Kämmen wieder von seiner Haut kratzen. Doch Afra küsst Platinow sowieso nicht. Ihr Verhältnis ist nun mal gespannt, und Heuchelei hilft da auch nicht weiter.

 

"LKW hat mir heute morgen noch einen künstlichen Darmausgang gelegt. Da verschwindet der Angstfurz ungehört“, antwortet Platinow mit säuerlicher Schlagfertigkeit.

 

Sie geben sich wenigstens die Hand. Dann wirft Afra ihr Geschenk auf den großen Haufen zu den Lamborghinis, dem Selbstgebastelten und den Taschenbüchern und ist entlassen in das summende Getümmel.

 

Der Hochzeitssaal, den sie nun am oberen Rand betritt, ist terrassiert wie eine peruanische Hochlandplantage und endet in einer Kiesgrube. An der Rückwand ist die Bühne für das Kulturprogramm untergebracht. Zum Boden des Kessels führt ein serpentinenartiger Weg über blühende Felder an bunten Zelten mit Kost- und Gesprächsangeboten vorbei. Unten zwischen Pfützen und zertrampelten Feuerstellen im teilweise knöchelhohen Kondommatsch soll dann die eigentliche Hochzeit stattfinden.

 

Leider steht auf den Feldern auch eine große Anzahl Hochsitze. In alle Richtungen gewendet sitzt auf ihnen Karma und hält mit dem Feldstecher Ausschau nach Afra.

 

"Kannst du mich nicht mal kurz unsichtbar machen?", fragt Afra den Engel mit dem Schlüssel zum Abgrund.

 

"Leider nein", antwortet dieser, "dazu fehlt dir die Heiligenreife."

 

Also sucht Afra Schutz hinter breiten Männerrücken.

 

"Kann wohl nicht loslassen, die Arme?" Das ist Susan Attwood, Afras Galeristin. Sie zieht Afra unter einen duftenden Rosenhain, wo Champagner ausgeschenkt wird, und zeigt auf den nächsten Hochsitz.

 

Afra lächelt gleichzeitig gequält und dankbar: "Ja. Das nervt."

 

Attwood ist eine energische, aber nicht sehr attraktive Brünette mit kurzem Pony, großer Hornbrille, kirschrotem Lippenstift und saugstarker Raucherlunge. Sie und Afra kennen sich noch aus der Zeit, als Afra von zu Hause weggelaufen war und in den Ateliers irgendwelcher Künstler schlief, die sie in Kneipen kennengelernt hatte. Attwood, damals noch eine mittellose Fata Morgana ihrer späteren Erfolge, strich ihrerseits durch die Ateliers und machte sich einen Namen als Expertin für schmerzhafte Erklärungen. Ohne Knautschzonen der Rücksicht analysierte sie Schwächen der Kunstwerke, zeigte mit dem Finger auf die Stellen, wo der Künstler seine fehlende Originalität durch Anleihen bei andern Künstlern zu übertünchen hoffte, natürlich immer in der Absicht, dass es keiner merkt oder man es als Hommage erklären würde. Attwood räumte also verbal, aber wahrhaftig den ganzen Schaum und Bluff beiseite, aus dem 99 Prozent der künstlerischen Selbstvergewisserung besteht, und lobte dann das eine Prozent (wo es das gab), bei dem der echte Zweifel des Künstlers an seiner Stärke zu einem Ausdruck geführt hatte, der das Pathos wirklich verdient, nach dem sich alle kreativen Menschen so sehnen.

 

Wer das nicht nur ertrug, sondern die Qualität in Attwoods harschen Urteilen erkannte, machte sie zur Ratgeberin, alle anderen hassten sie. So wurde sie Galeristin. Afra nahm sie unter ihre Fittiche, als diese mit ihren Miniaturschnitzereien in getrockneten Ejakulatsmassen Grisaille-Broschen mit stark blasphemischem Inhalt schuf und damit den ganzen öffentlichen Hass ihres Vaters auf sich zog. Man hätte Attwoods Aufmerksamkeit natürlich kommerzielles Kalkül nennen können, aber Afra beschlich nie das Gefühl, von ihr nur benutzt zu werden. So blieb Attwood Afra treu, als der Mini-Skandal längst verebbt und verkunstgeschichtet war und hat sie immer in ihrem sprunghaften Zugang zu unterschiedlichen Medien, Formaten, Ästhetiken und Themen bestärkt, obwohl das dem Verkaufserfolg zumindest so lange extrem hinderlich ist, wie man nicht eine eingeschriebene Größe der Kunstwelt ist.

 

"Vielleicht solltest du mal ein wenig grob zu Karma werden. Du bist viel zu höflich in deiner Ablehnung", sagt Attwood.

 

"Findest du? Ich bin so ungern roh", antwortet Afra. Der Engel mit dem Schlüssel zum Abgrund lächelt süffisant.

 

„Was hilft es ihr, wenn ich grob zu ihr bin?“

 

"Kleiner Hinweis, sich mit den eigenen Ängsten zu beschäftigen. Menschen wie Karma stellt sich die Welt als eine permanente Überforderung dar. Ihr ist alles zu viel, sie fürchtet starke Gefühle, weil das ihr inneres Chaos noch mehr verstärkt. Deswegen zieht sie sich in träumerische Vorstellungen zurück und die gewinnen irgendwann ein Eigenleben als Realitätsersatz. In diesen Vorstellungen ist alles von einer merkwürdigen Idealität und Verständigkeit, friedlich, auch erotisch, manchmal gewaltsam, voller Abenteuer und großer Gefühle, aber vor allem immer richtig und verletzungsfrei. In dieser Verwechslung glaubt Karma, sie würde dich sehr lieben, und eure Krisen und eure Trennung seien nur eine lange Reihe von Missverständnissen. Sie kann ihre eigene Rolle nicht einschätzen und handelt emotional nach den Gesetzen ihrer Wunschvorstellungen, die aber im echten Leben den Menschen Pickel machen."

 

„Woher weißt du das?“, fragt Afra.

 

„Ich war natürlich selber so“, antwortet Attwood mit schmerzlichem Lächeln.

 

„Und was hat dich aus diesem Zustand befreit?“

 

„Eine schwere Krise, die die Einsicht unumgänglich machte, dass ich Hilfe brauche.“

 

 Da tritt der Engel mit dem Schlüssel zum Abgrund aus dem Hintergrund und streicht Attwood ermutigend über die Haare.

 

„Aber ich kann und will Karma nicht helfen. Dann stehe ich ja wieder mitten drin in der Verstrickung.“

 

„Deswegen ist es fairer, den Scheiß da nicht mit Duldung künstlich zu verlängern. Dann verwandelt sich ihre Hoffnung nur in weitere Feindseligkeiten unter dem Banner der Sehnsucht. Werd lieber richtig abweisend und hart."

 

Afra betrachtet sich Attwood das erste Mal in Neugier als Frau mit Biografie. Niemals vorher hatten sie über ihre Vergangenheit oder eine Form von Privatleben gesprochen. Zwar war Attwood dank ihrer regelmäßigen Besuche im Atelier, die der Motivation einer zweifelnden Künstlerin dienen sollten, bestens vertraut mit Afras impulsiven Beschreibungen komplizierter Gefühlswelt, aber beschämt musste sich Afra eingestehen, dass sie die Andere nie nach ihren Träumen und Erlebnissen befragt hatte, obwohl sie sich Attwood eigentlich freundschaftlich verbunden fühlt. Das Bild der souveränen Frau, die professionelle Erscheinung einer Vertrauensperson, die stets Rat weiß und nie die Fassung verliert, hatten es verhindert, dass Afra ein Innenleben in sie hinein phantasiert hätte.

 

Auch über die sexuelle Ausrichtung ihrer Händlerin wüsste sie nichts zu sagen. So harsch, vernünftig und offen, wie Attwood mit allen Menschen umgeht, müsste sie eigentlich noch Jungfrau sein. Deswegen empfand Afra ihre rationalen Ratschläge in Beziehungsfragen, die Attwood manchmal auf Afras emotionale Tiraden äußerte, stets ein wenig wie aus Klatsch drapiert und nahm sie eher distanziert zur Kenntnis. Obwohl Attwood bei der Analyse von Afras Bekannten selten Schlüssigkeit und Witz vermissen ließ, berührte es Afra immer mit einer Spur Widerwillen. Ihre schnellen Hilfestellungen schienen immer eher ihrer außergewöhnlichen Beobachtungsgabe geschuldet als realer Erfahrung. Der Verdacht, dass Attwood so schlau über andere sprechen kann, weil sie sich selbst von jedem emotionalen Konflikt fern hält, verhinderte letztlich eine wirklich herzliche Beziehung von Afra aus. Doch in diesem Moment betrachtet sie Susan mit anderen Augen, merkt aber gleich, dass dieser das eher unangenehm ist.

 

"Willst du nicht doch mal wieder ein bisschen Kunst machen?", wechselt Attwood das Thema. Es liegt aber kein Vorwurf in dieser Frage, so dass Afra ehrlich antworten kann: "Ich bin nicht inspiriert. Ich fühle mich leer, antriebslos und gelangweilt."

 

"Und wenn ich dir einen Termin setze, eine Ausstellung ansage?"

 

Afra schüttelt den Kopf.

 

"Klappt es denn wenigstens mit der Musik gut?"

 

"Stockt so vor sich hin."

 

"Mensch Mädel, was ist los mit dir? So kenne ich dich gar nicht."

 

"Keine Ahnung. Ich fühle weder Angst noch Lebensfreude. Früher hatte ich von beidem genug."

 

Neben ihnen wächst gerade eine Aufregung zur Lautstärke heran. Zwei Dirigenten, der eine dicklich, glatzköpfig und gut angezogen, der andere klein, vollbärtig, in Jeans-Anzug, haben Ärger mit der Hochzeitspolizei. Sie tragen Schilder um den Hals "Dirigenten suchen Mitarbeiter", womit sie gegen das Gesetz "Keine verdeckten Geschäftstätigkeiten während zeremonialer Vorgänge" verstoßen haben sollen. Der ökonomisch extrem schädliche Paragraph, der vor allem auf Begräbnissen strikt angewendet werden soll, möchte – auf politischen Druck von Tintes Transzendenten, zu denen auch Afras Vater gehört – die Würde des Ritus retten. Informelle Anbahnungsgespräche, professionelles Kontakten in alkoholisierter Atmosphäre und rücksichtsloses Netzwerken sind zwar für viele Menschen der einzige Anlass, auf Hochzeiten und Begräbnissen Fröhlichkeit und Anteilnahme zu heucheln. Allerdings hatten diese wirtschaftlichen Hoffnungen in feierlichen Umständen solche groteske Formen angenommen, dass die Demokratie einschreiten wollte.

 

Versicherungsvertreter, die Angebote in die Servietten schmuggeln, arbeitslose Schauspieler, die am offenen Grab Shakespeare vorsprechen, Künstler mit umgebundenen Hungertuch auf der Suche nach Mäzenen, die für ihr Leben zahlen, minderjährige Handzettelverteiler mit schlechten Tischmanieren, ehemalige Tennisprofis, die um Geld für eine nach ihnen benannte wohltätige Stiftung betteln, Drogenversandhändler, depressive Journalistinnen, Agenten ohne Kontakte, Detektive mit der Seuche oder hinkende Rockmusiker, die mit ihrer Mutter geschlafen haben, strömten so scharenweise zu intimen Verlobungsfeierlichkeiten wie zu Massenhochzeiten, dass etwas unternommen werden musste. Allerdings hatte die Legislative das Gesetz so schlampig formuliert, dass Kleingewerbliche wie Dieter und Rainer, unsere zwei Dirigenten, sich stets darauf berufen können, keinerlei „verdeckte“, sondern ganz offene Geschäfte betrieben zu haben.

 

Da sie außerdem eine Einladung vorweisen können, müssen sie nur die Schilder abgeben. Und weil sie längst genug Publicity für ihr Anliegen erreicht haben, denn natürlich wurde der ganze Streit auf die Stadionanzeige übertragen, schlagen sie ein und begeben sich an die Tokaier-Bar, wo Ferrand Hosti, der Afra seit Wochen damit nervt, dass er sie für seine neue Underground-Komödie über Paul Abraham (den Biologen, der entdeckt hat, dass das Christentum von einem Virus verursacht wird) als Mutter Maria casten möchte, diese Rolle gerade einem blonden Säugetier mit großen Mamas anbietet, die ihm aus Mitleid für sein mickriges Aussehen die Telefonnummer ihrer Freundin Olga Popova, die im horizontalen Gewerbe arbeitet, als ihre eigene aufschreibt.

 

Auf der Bühne beginnt derweil das Aufwärmprogramm. Der greise Skateboarder Tony Hawks zeigt mit ein paar Freaks die 54 Sprünge, die nach ihm benannt sind. Dann tritt das Komikerduo "Kindlifresser und die sympathische Kommunistin" auf und geben ihre Klosprüche zum Besten, was erwartungsgemäß zu großer Erheiterung führt. Die Massen amüsieren sich eben doch am vortrefflichsten, wenn es keinen Subtext zu beachten gilt.

 

Kindlifresser eröffnet mit:

 

"Spaß muss sein, sprach Wallenstein

 

und schob die Eier mit hinein."

 

Und das ist gleich ein großer Brüller.

 

Dann kommt die sympathische Kommunistin mit:

 

"Bursche, nimm die Hand aus meiner Hose, ich zähle bis Tausend", und das kommt auch sehr gut an.

 

Dann wieder Kindlifresser:

 

"Es war einmal ein geiles Weib

 

Das bereits im Mutterleib

 

sich so zu drehen wusste,

 

Dass Papi beide vögeln musste."

 

Da johlt aber der Stadionhumor.

 

Und die andere:

 

"Scheiß Party, wenn ich meine Hose finde, gehe ich aber."

 

Dann noch von ihm:

 

"Spalttabletten, meine Dame,

 

sind bekömmlich und gesund.

 

Doch verwirrend ist ihr Name,

 

denn sie müssen in den Mund."

 

Schließlich sie wider:

 

"Wenn Pornografie sexuelle Frustrationen heilt, warum gibt man Hungernden dann keine Kochbücher?"

 

Und er:

 

"Eine Null kann bestehende Probleme verzehnfachen."

 

Entsetzlich oder? Afra und Attwood jedenfalls nehmen lieber ein Glas Champagner, eine Hollywoodschaukel und bewerten vorbei kommende Männer.

 

 

 

 

Und dann?

 

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