Tinte-trilogie, Band 3:  "Hortus Conclusus"

 

Alpha

 

 

 

 

 

„Stellen Sie eine Frage, sonst kann ich nicht anfangen“, sagt der Mann im Halbdunkel auf dem Hocker. Schmidt kehrt von der Lektüre der Buchrücken zurück und nickt. Es riecht nach altem Mann in dem Bibliothekszimmer ohne Möbel und Teppich. Der schwarz gekleidete Beau, der sich effektvoll in die Mitte des großen leeren Raums mit den Regalen platziert hat, ist allerdings höchstens Mitte Dreißig. 

 

„Warum besitzen Sie so viele Bücher, aber keinen Sessel, um sie zu lesen?“, fragt Schmidt. Sein Gegenüber lächelt. In dem mulmigen Licht eines sommerlichen Nachmittags, das durch die fleckigen orangen Vorhänge vor dem einen Fenster in den Raum dringt, kann Schmidt dieses Lächeln nicht entziffern. Ist es verlegen, gequält, ironisch oder amüsiert?

 

„Ich besitze nichts, nichts von dem hier“, antwortet sein Gastgeber. „Ich habe mich hier eingenistet wie ein Parasit, zunächst aus Neugier, dann aus...“ Der Mann sucht das richtige Wort, dann lässt er den Satz liegen. „Aber ich nehme mir immer ein Buch mit, wenn ich nach draußen gehe, und lese es unterwegs.“

 

„Zuletzt?“, fragt Schmidt, der wieder seine Runde zu den Buchrücken aufnimmt. Es sind Paperbacks, zerlesen wie aus einem Second-Hand-Laden am Quai Gustave, aber Literatur und echte Wissenschaft, kein Schund. Dazwischen steht die weit gereiste Souvenirladenbeute für intellektuelle Romantiker: Voodoo-Puppen aus New Orleans und Homer aus Speckstein, Elvis mit Wackelhüften und handgeschmiedete Yoruba-Gottheiten, Kykladen-Idole mit Marmorsockel und der Sonnenkönig aus Plastik.

 

„Ich nehme eigentlich immer zwei bis drei mit, wegen der Auswahl. Muss zu dem Ort passen, wo ich lese.“

 

„Und so jetzt?“

 

„‚Die Theorie der feinen Leute’, den Rosenroman und ‚Kaputt’ von Malaparte, das lese ich im Moment parallel.“

 

„Ein Intellektueller!“, brummt Schmidt und stellt sich mangels Sitzgelegenheit wieder vor dem Hockenden auf.

 

„Nicht wirklich. Eher ein Verwirrter“, antwortet der Mann und lächelt wieder.

 

„Ihr Name ist Jamie Hapur?“

 

„Korrekt.“

 

„Und das hier ist Ihr Hauptwohnsitz?“

 

„Seit ich mich von meiner Freundin getrennt habe und dem großen Mysterium auf der Spur bin, ja.“

 

„Was machen Sie sonst beruflich?“

 

„Na, ich verbringe traditionell meine Tage damit, mich vor Arbeit und Verantwortung zu drücken. Meistens erfolgreich. Ich habe mal Architektur und Philosophie studiert, aber tatsächlich betrüge ich seit meiner Studienzeit die Sozialhilfe, indem ich einsame Frauen zu Hause massiere und ab und zu mal Konzerte gebe. Ansonsten bin ich der letzte Fahrraddieb in Tinte. Da ich eh kaum schlafen kann, schneide ich morgens sehr früh teure Räder von den Zäunen ab, fahre durch die Stadt und entweder verkaufe ich sie dann unten am Hafen oder ich tausche sie drüben an den Toren des Slums der Guten Hoffnung gegen leichte Betäubungsmittel.“

 

„Das ist es aber vermutlich nicht, was Sie anzeigen wollten.“

 

„Nein“, antwortet Hapur mit deutlich weniger Ton in der Stimme. Mit seinen x-förmig angewinkelten Beinen, die Hände zwischen die Knie geklemmt und krumm im Rücken erinnert die eingesunkene Figur Schmidt ein wenig an den Jungen, den er regelmäßig im Heim besucht, ohne dass er sich entschließen könnte, ihn zu adoptieren. Allerdings hadert diese Körperhaltung bei einem athletischen schönen Mann im besten Alter, der mit seinem Jim-Morrison-T-Shirt unter der Motorradjacke, den schwarzen Jeans und Cowboystiefeln wie der angebetete St. Call-Boy wirkt, deutlich mit dem Erwachsensein.

 

„Was haben Sie dann verbrochen?“

 

„Darf ich von vorne beginnen?“

 

„Lohnt es sich denn?“

 

„Vielleicht gehen Sie einmal durch die Wohnung. Wenn Sie das neugierig macht, bringen Sie sich einen Stuhl mit.“

 

„Und wenn nicht?“

 

„Erzähle ich nur den Mord.“

 

Schmidt leiht sich etwas schlechte Laune aus seinem leeren Magen und antwortet: „Für den Fall muss ich Sie so lange an die Heizung ketten“, und er holt die Handschellen mit dem rosa Pelzbesatz aus dem Mantel, die er immer dann verwendet, wenn es gilt, besonders männlichen Delinquenten ein wenig ihren Stolz zu demütigen.

 

„Oh, ein Bulle mit Humor“, antwortet Hapur und rückt seinen Hocker Richtung Heizungsrohre.

 

„Nur mies gelaunt“, antwortet Schmidt und klickt ihn fest. Dann informiert er den Streifenwagen vor dem Haus: „Bamberger, zwei vegetarische Pizzen, Liter Cola und Zahnputzkaugummis.“

 

„Sie haben die Wohnung doch noch gar nicht gesehen“, wendet Hapur ein.

 

„Auch das schlechte Ende reicht für eine ganze Mahlzeit.“

 

Schmidt öffnet die schwere Doppeltür zum nächsten Raum, deren Lackschichten abgeblättert und abgeschabt verschiedene Muster aus grünlich bis gelblich weißen Farbfragmenten zeigen, und steht nun in einem richtigen Bibliothekssaal. Vor diesem degradiert sich das Zimmer, aus dem er eintritt, zur Ramschabteilung. Doppelgeschossige dunkelbraune Regale mit einer begehbaren Balustrade auf halber Höhe beherbergen Tausende von Büchern. Glasschränke mit alten Foillanten sowie Stehpulte in Alkoven sind in rhythmischen Abständen eingelassen. Die Holzarchitektur ist schlichte, aber würdige Zimmermannsarbeit mit feinen handwerklichen Details. Aber das wirklich Schöne sind die große Aquarien, die an verschiedenen Stellen in den Bücherwänden mit ihrem lila Neonlicht den Raum beleuchten, als sei diese Wissensburg ein Riff. Bunt farbige und grotesk geformte Lebewesen, so etwas wie Fische, schwimmen dort in abstrakten Architekturen herum, und das Blubbern der Sauerstoffzufuhr senkt eine große Ruhe über den Saal.

 

Zwischen den Regalen stehen große Holztische, deren grüne Linoleumoberflächen fast vollständig unter Stapeln alter Zeitungen, von Dokumenten und Büchern verschwinden, auf denen wiederum Dutzende Kerzenleuchter thronen. Schmidt sieht sich reflexartig nach einem Feuerlöscher um, kann aber keinen entdecken. Unter den Tischen stören gewöhnliche Umzugskisten die gediegene Atmosphäre, aber auch die zahlreichen Alkoholika, mit denen Lücken in den Regalen gefüllt sind, passen nicht wirklich in das Bild erhabener Wissenschaft. Außerdem rascheln Tiere irgendwo, vermutlich Ratten.

 

Schmidt notiert sich ein paar der rätselhaften Begriffe von den handgeschriebenen und in Emaille-Rahmen an den Regalen befestigten Ordnungstafeln: „Homiletik“ etwa, „Richard Mannings neue Prärie“, „Die Schwester Lotans war Timna“ oder „Der fähige (oder heißt es fühlige, das kann Schmidt nicht wirklich entziffern) Rochus“. Neugierig nimmt er einen Band über Fackeln aus dem Regal. Dabei zerreißt er ein Wurzelgeflecht, das von der Wand mit feinsten Adern zwischen die Seiten gewachsen ist und das Buch festhielt. Die Rückseiten der Regale sind bedeckt von diesem Geäst, das – zu Strängen verdickt – schließlich durch Öffnungen in den Wandplatten verschwindet. An der Decke der Bibliothek tauchen diese Wurzeln wieder auf und führen zu einem Loch neben dem Kronleuchter. Aber das feine Gewebe, das Schmidt jetzt mit leichtem Ekel befühlt, ist vertrocknet, tot und bricht sofort. Es schaudert Schmidt, und er beschließt, dass es sich nicht lohnt, das Buch zu öffnen. Er stellt es zurück an seinen Platz, was einen tiefen Seufzer aus dem Gemäuer befreit.

 

Zwei weitere fensterlose Bibliothekssäle in denselben Abmessungen, gleich möbliert und beleuchtet von Aquarien folgen der ersten Abteilung. Erst an der Stirnseite des vierten Saals, den Schmidt durch eine majestätische Doppeltür mit goldenen buddhistischen Ornamenten betritt, dringt wieder Tageslicht durch das fleckige orange Tuch, das auch hier die Fenster verhängt. In diesem größten Saal, der sich rechter Hand noch einmal um das Doppelte der vorherigen Räume erweitert, sind nun außer den Büchern noch zahlreiche Objekte bewahrt. Antike Statuen und Schaufensterpuppen mit historischen Trachten und Uniformen stehen einträchtig beieinandern. Kirmesgegenstände, alte Maschinenteile, Laborutensilien und ausgestopfte Tiere, Zimmereinrichtungen und Waffen, Neonschilder und Filmvorführungsapparate findet Schmidt. Auf ausrangierten Flugzeugsitzen stapeln sich Kisten mit Kinderinstrumenten, sowie Nähkästchen voller Knöpfe. Ballen von Fischernetzen liegen unter Glasvitrinen, in denen sich nautische Instrumente aus Messing und alte Landkarten den Platz stehlen. Sonnenbrillensammlungen fließen über antike Personalcomputer und Schreibmaschinen. Stapelstühle, Kuckucksuhren und burgundisches Glas wird hier genauso gesammelt wie Teppichballen und Teekisten mit Bedienungsanleitungen.

 

All diese skurrilen Flohmarktschätze sind jedoch nur schemenhaft erkennbar, da das meiste unter transparenten Plastikfolien verborgen ist, die mit feinem Tierkot übersät sind. An der Decke, wie Schmidt erst jetzt bemerkt, hängen tausende schlafende Fledermäusen an dem Wurzelgeflecht und verursachen leise Geräusche. Auch ein hoher Ton ist zu hören, der offensichtlich von dem klemmenden Mechanismus eines goldenen Falken stammt, mit dem man eindringende Tiere jagen und zerfetzen kann.

 

Obwohl die Bibliothek vollständig verlassen wirkt, ist sie – mit Ausnahme des Tierkots – erstaunlich sauber. Kein Staub nirgends, als wäre sie täglich belebt von Lesern und Putzkräften. Schmidt steigt extra auf eine der Bibliotheksleitern und reißt ein paar Bücher aus dem Geflecht, aber auch in den oberen Regalen lassen sich die Bände aufklappen und zuschlagen, ohne dass eine Wolke toter Zellen davonstiebe. Lediglich in den Kronleuchtern klingelt es leise durch den Luftzug, und das Gemäuer seufzt erneut. Beim zweiten Mal klingt es Schmidt eher wie aus Dankbarkeit.

 

Konzentriert betrachtet er sich das Arsenal ein wenig von oben, macht ein paar Fotos mit seinem Telefonapparat, dann steigt er wieder ab und sucht den Ausgang für die Fledermäuse. In den raumhohen Glastüren hinter den Vorhängen, die auf einen fürstlichen Balkon führen, findet er zahlreiche Scheiben kaputt. Dahinter liegt das Slum der Guten Hoffnung und die Stierkampfarena, aus der Schmidt, als er auf den Balkon tritt, den verzerrten Schrei nach rotem Fleisch vernimmt. Wie die Henker, Schlachter, Gerber und Kerzenmacher mit ihren großen Fabriken müssen auch die Toreros ihr Gewerbe außerhalb des bewohnten Straßenrasters ausüben.

 

Den Fleckenteppich aus Behelfsbehausungen, der sich hinter dem elektrischen Nato-Zaun – mit dem die Besucher der Arena vor den verrohten Manieren der Armen geschützt werden – bis zu den Deponien und auf die Hügel ergießt, hat Schmidt noch nie betreten. Dort herrschen eigene Gesetze und Autoritäten, die der Staat in seiner Kompromisshaltung zu akzeptieren gelernt hat. Als junger Polizist stand Schmidt einmal am Rand, als es darum ging, aus politischer Initiative die unwürdigen Lebensbedingungen im Slum durch unwürdige Lebensbedingungen im Hochhaus zu ersetzen – wogegen sich die Bewohner erfolgreich und blutig zur Wehr setzen konnten. Seither ist sein Berufsstand dort endgültig unerwünscht. Wenn im Slum einer abkratzt, kommt der Organhändler, nicht die Polizei. Das Parfüm des Staates wirkt in dieser traurigen Welt für immer wie das Odem des Verrats. Wer es trägt, ist vor allem bedroht.

 

Schmidt setzt seinen Rundgang in den palastartigen Räumen fort, deren Dimensionen er in diesem gewöhnlichen Geschosswohnungsbau aus der Gründerzeit nicht erwartet hätte. Er stößt als nächstes auf ein intaktes Labor mit Operationstisch, das trotz seiner klinisch türkisen Sauberkeit wegen der vielen merkwürdigen Apparturen und Werkzeugen, die hier lagern und an den Wände befestigt sind, eher wie eine Bastelstube für Organ-Alchemisten wirkt. Ein Depot mit eingelegten Tieren, Häuten und Pflanzen, eine Asservatenkammer mit noch mehr Zeugs und eine riesige begehbare Kühlkammer mit Blutkonserven und Gewebeproben schließen sich an. Und nach einer weiteren torartigen Glastür beginnen schließlich Privatgemächer. Zunächst eine große Küche mit gut bestückten Kühlschränken und einem riesigen Plasmafernseher, danach einige herrschaftliche Wohn- und Schlafräume. Eine unordentliche Abstellkammer mit ungemachtem Feldbett wird offensichtlich beschlafen von Herrn Hapur. Am Ende folgt ein altmodischer Kinosaal mit 217 roten Plüschsitzen. Schmidt hat eine Zählmanie.

 

Auf dem Rückweg nimmt er zwei kalte Bier aus dem Kühlschrank in der Pantry und einen Küchenstuhl mit.

 

„In Ordnung. Beginnen Sie von vorne“, sagt er zu Hapur, macht ihn wieder los und gibt ihm ein Bier.

 

„Danke, ich trinke nicht mehr.“

 

„Umso besser.“

 

Rock Bamberger kommt mit den Besorgungen: „Scheiß Gegend hier, Boss. Scheiß nahe an den Sponcs. Aber die meisten sind ganz in Ordnung hier. So Künstler halt. Die lieben ja den Dreck und die billigen Buden.“

 

„Danke, Officer“, antwortet Schmidt, ohne von seiner Pizzaschachtel aufzuschauen: „Organisieren Sie mir für später eine Führung.“

 

Schmidt jucken die Augen, vermutlich ein kleiner allergischer Anfall auf Flughundscheiße.

 

„Wer macht hier eigentlich sauber?“, fragt er Hapur, während sie essen.

 

„Seit es tot oder so was ähnliches ist, helfe ich Mogwai dabei.“

 

„Mogwai?“

 

„Der Hausgeist.“

 

„Und was ist ‚es’?“

 

„Ich soll doch von vorne anfangen, oder?“

 

„Na gut,“ mault Schmidt, „aber Abschweifungen begeistern mich nicht. Und denken Sie an die Konsequenzen.“

 

Schmidt stellt sein Diktiergerät an. Dieser Kommissar ist einer der Alten, denen die Dezernats-Techniker aus dem Elektroschrott des letzten Jahrhunderts ein klappriges Interface zu den zetigemäßen Geräten basteln müssen, da Schmidt sich weigert, neue Bedienungsanleitungen zu verstehen. Man braucht andere Qualitäten, um mit diesem Starsinn nicht gefeuert zu werden.

 

„Mein Leben als Chronist begann am 13. März gegen fünf Uhr“, fängt Jamie Hapur an. „Da sah ich sie. Erst nur ihn, dann sie beide. Ich sah sie in dem Moment, wo sie sich sahen, und ich weiß, sie bemerkten mich nicht, so konzentriert waren sie sofort aufeinander. Das ist erstaunlich, denn ich mag eine Menge schlechte Eigenschaften haben, aber ich bin definitiv nicht der unsichtbare Typ, an den sich später niemand mehr erinnert. Wo ich hinblicke, da blickt man zurück, jedenfalls, wenn man weiblich ist.“

 

„Man ist nie weiblich“, unterbricht der Alte.

 

„Egal. Ich saß vor dem ‚Beckett’ hier um die Ecke, um Menschen anzusehen. Außer mir hockten da nur noch ein paar nervige Shopping-Tüten und eben der Dämon. So heißt im Quartier der Alte, der bekannt dafür ist, dass er dauernd Menschen beleidigt. Nicht jeden beliebigen. Er wählt aus, wem er seine hässlichen Ratschläge gibt. Zum Beispiel den dummen Gören, deren Geld und Geschmack das Viertel hier in eine Boutique verwandelt hat. Er nähert sich ihnen als freundlicher Rentner, verwickelt sie in ein Gespräch, in das er dann kleine Beleidigungen und ätzende Bemerkungen über ihr Aussehen oder ihre geistlosen Gespräche einstreut, bis er sie in heller Empörung hat. Andere Opfer sind die Neureichen, die hier die Bruchbuden aufkaufen und luxussanieren, vor allem ihre Frauen, jedenfalls die, die mit ihren blasierten Mienen teure Kinderwagen und Perlenketten über das kaputte Pflaster schieben und mit einer Herablassung auf die angestammten Bewohner der Gegend blicken, die zwar nur Unsicherheit ist, aber trotzdem kränkt. Auch die coolen Aushilfskräfte in den Kettenläden oder die Touristen, die mal das bekannte „Szene-Viertel“ sehen wollen, lernen die Schmähungen des Dämons kennen.“

 

„Gehört das zur Sache?“

 

„Es gehört zur Person, um die es geht.“

 

Jamie Hapur kaut ein wenig Pizza und schiebt die Schachtel dann zu Schmidt, der seinen Staubmantel noch immer nicht ausgezogen hat und ziemlich schwitzt.

 

„Der Dämon ist eine eindrückliche Erscheinung. Er sieht ein wenig aus wie Karl Marx mit weißen Haaren. Hohe Stirn, wallendes Haar, buschige Auenbrauen, Vollbart und Borsten, die aus allen Löchern wachsen. Wenn er auf seine Opfer lauert, dann setzt er eine sehr gütige Miene mit mildem Lächeln auf, aber wenn er sie dort hat, wo sie richtig aggressiv werden, dann lacht er ein sehr hässliches Lachen und in seinen Augen erscheint die wahre Härte seiner Empfindungen. Und er furzt dann immer sehr laut. Natürlich ist das irgendwie armselig, wenn man es als Masche erkennt, aber andererseits trifft es keine Falschen. Die Menschen, die in diese Gegend einfallen, mit ihrem einseitigen Verhalten und ihren primitiven Wünschen nach Einkaufen, sind halt zoologischer Müll. Kapitalistische Guanosammler, die nur noch deswegen auf zwei Beinen gehen, weil das motorische Äquivalent ihres Charakters, das Kriechen, ihr Bauchnabel-Piercing nicht so gut zur Geltung bringt.“

 

Schmidt betrachtet Hapurs Aufflackern von Erregung mit einer gewissen Zuneigung. Die Maskenspiele, mit denen er es seit 30 Jahren zu tun hat, haben seine moralischen Urteile in Gleichmut erstickt. Nur in den seltensten Fällen sind Gewaltakte verurteilenswert. Sie sind Konsequenzen von Angst, die dann eintreten, wenn der Mensch die Dimension seines Handelns nicht mehr überblickt. Deswegen langweilen Schmidt Tatverläufe und -profile. Das einzige, was ihn trotz seines stoischen, tief frustrierten Empfindens nicht ermüdet, ist Zorn. Nicht diese flaue Empörung von Berüfsnörglern oder die stumpfe Aggression von Menschen ohne Spiegelneuronen, sondern der Ausbruch einer gerechten Wut, die auch geduldige und vernünftige Menschen nicht mehr kontrollieren können. Das gibt Schmidt das Gefühl, jener Energie nahe zu kommen, die das Wertvolle vom Banalen trennt. Und selbst wieder lebendig zu sein.

 

„Sie mögen den Alten also?“ fragt Schmidt.

 

„Mochte, damals, eine wenig. Denn es gab in diesem armen Teil von Tinte einst mal eine respektvolle Gemeinschaft von einfachen Menschen, Künstlern, Prolls, Prostituierten, Stadtbauern und Religiösen. Kein Mensch kümmerte sich um diese Gegend am Rande zum Gefahrengebiet. Also kümmerte man sich selbst. Das war manchmal ein bisschen bedrohlich, aber auch aufregend, herzlich und schön. Es gab Vertrauen untereinander, Beistand, aber auch Achtung vor den Unterschieden. Man feierte zusammen die Bailes Funks und verhinderte die Erweiterung der Dandora-Müllkippe. Der gemeinsame Wille zu Freiheit und Eigensinn, der an diesem Ort Tradition hat, verband die Menschen, selbst, wenn sie sich aus Armut gegenseitig beklaut haben. Aber mittlerweile ist nur noch diese Randzone zum Slum frei von Reklame und teurer Langeweile. Schon drei Blocks weiter braucht man Geld. Im ganzen Zentrum von Alkahest regieren mittlerweile die Kreativen, und die ziehen all die Schmarotzer an, die sich in ihrem Wohlleben so langweilen, dass sie Aufregung mit einer Eigentumswohnung im ehemaligen Problemkiez suchen. Die sind die Pest, das sage ich Ihnen.

 

Und der Dämon ging eben auf diese Leute zu und beseitigte für Sekunden zuverlässig ihre Fassade des dämlichen Selbstvertrauens.“

 

„Sie selbst waren nie gelangweilt?“ fragt Schmidt dazwischen.

 

Hapur sieht ihn erschrocken an. Dann senkt er Stimme und Körperspannung wieder.

 

„Doch, natürlich. Die meisten Tage meines Lebens waren taub und zäh. Mir fehlte ein Sinn, eine Aufgabe. Ich bin ein Berufsjugendlicher, ein Damenspielzeug, was meinen Sie, wie man sich da fühlt? Die Begierden der Menschen sind so entsetzlich schematisch, und Frauen machen da keine Ausnahme. Wenn man jung ist, wird man mit Aufmerksamkeit überschüttet, aber glauben Sie bloß nicht, dass man deswegen ohne Zweifel lebt. Und umso älter man wird, umso stärker breitet sich das Gefühl von Wertlosigkeit in einem aus. Ich existiere nur als Versager. All die schönen Erfolge bei Frauen, das ist Droge. Ich bin ein Dealer meiner hübschen Züge und meiner Schwanzlänge. Aber was meinen Sie, was das für ein Spaß ist, im Zettelverteiler reicher Hausfrauen als guter Stecher zu stehen, der für Salär ohne Tarif zu ihnen kommt, sie einölt, massiert und dann ordentlich durchfickt, um anschließend mit einem verschlossenen parfümierten Briefumschlag und einem seligen Lächeln vor die Tür geschickt zu werden?“

 

„So genau wollte ich es gar nicht wissen.“

 

„Man wird dünnhäutig. Sehr dünnhäutig. Gerade neulich bin ich wieder ausgerastet, weil bei meiner Schreibwarenhändlerin alle in der Schlange unaufgefordert eine Rechnung bekommen haben, nur ich nicht. ‚Sehe ich aus, als ob ich keine Quittung brauche“, habe ich die arme Frau angeschrien.“

 

„Gehört das noch zum Fall“, versucht Schmidt Jamie Hapur noch einmal zu bremsen.

 

„Nur indirekt, aber Sie haben schließlich gefragt.“

 

„Und wer ist jetzt ‚sie’?“

 

„Sie ist die erste Frau, die mich wirklich wieder interessiert hat, seit ich den letzten Versuch abbrechen musste, eine Beziehung zu führen.“

 

„Sie waren mit Afra Moreau liierte, jetzt erinnere ich mich.“

 

„Sie lesen Promi-Magazine?“

 

„Auf der Frauen-Toilette des Dezernats, ja.“

 

„Auf unserer Expedition nach Sun City sind wir uns wieder näher gekommen, aber als wir zurück waren, fühlte ich bald wieder diesen inneren Bückling vor ihrer Souveränität und Seelengröße. Das konnte nicht gut gehen. Aber das gehört nun wirklich nicht in diese Geschichte.“

 

„Nun also ihre neue Flamme.“

 

„Keineswegs, soweit kam es leider nie. Denn diese Frau ist ganz anders. Sie heißt Neben Sina, besser bekann als Shangri-La Shiloe, die ehemalige Sängerin von Tears & Pearls.“

 

„Die Schwarze?“

 

„Kommt aus Äthiopien. Und wie Sie als Yellow-Press-Konsument ja vermutlich wissen, hat sie das geteilte Gesicht.“

 

Schmidt macht eine Geste der Ahnungslosgkeit.

 

„Shangri-La Shiloe verschwand irgendwann von der Bildfläche, weil sie einen Schlaganfall hatte. Links ist sie seither immer noch die schönste Frau, die sie jemals gesehen haben, rechts hängt ihr Gesicht schlaff vom Knochen. Halbseitige Gesichtslähmung der gründlichsten Art. Und das ist vollendete Magie, ein brutaler Zauber des Anders, der mir einen erregenden Schock versetzte. Ich starrte sie an, wie sie auf das ‚Beckett’ zusteuerte, und der Dämon tat es mir gleich. Aber sie hat nicht mich angesehen. Sie blickte halbseitig lächelnd auf den bösen Greis, sie ging zu seinem Tisch und bat darum, sich setzen zu dürfen. Und der Alte, der sonst so sicher in seinem Hass gegen die Menschen ist, fing an zu stottern – und ein lauter unkontrollierter Furz verließ seinen Rektum.“

 

Jamie Hapur grinst bei dieser Erinnerung, dann fährt er fort:  „Sie fragte ihn ein paar einfache Dinge, so weit ich das verstand, und weil sie seine Verlegenheit bemerkte, eine Verlegenheit, die vermutlich dadurch verstärkt wurde, dass er der Welt kein anderes Gesicht als das des hinterlistigen fiesen Kauzes zeigen wollte, lud sie ihn zu einem Spaziergang ein. Da gingen sie, zwei Mischgestalten, die sich sofort erkannt haben. Die eine im geilen Gang eines Models, der andere hinkend und mit rostigen Gliedern.“

 

„Sie nennen den Mann böse, obwohl Sie große Sympathie für seinen Hass zeigen“, unterbricht ihn Schmidt.

 

„Er ist böse wie alles, was sich von seiner mäßigenden Hälfte zu befreien versucht hat, aber er ist trotzdem stark in dem, was er lange geübt hat – und dieser Mann hat sein Leben lang beobachtet und geurteilt.“

 

„Aber wie kann er dann ein Mischwesen sein?“

 

„Das werden Sie noch verstehen“, lächelt Hapur kurz und wie aus Versehen, um sofort zurück in den Ernst zu kehren: „Von den unfertigen und zerbrochenen Geschöpfen sind die zerbrochenen die reicheren.“

 

„Das sind jetzt aber nicht Ihre Worte, oder?“ zweifelt Schmidt.

 

Jamie schweigt.

 

Mag er diesen Mann? Schmidt weiß, dass das vor seiner langen Kenntnis menschlicher Camouflage eine unprofessionelle, ja sinnlose Frage ist. Aber wenn es etwas gibt, das Schmidts Leben besonders dumpf und grau macht, dann sind das Erfahrung und Routine. Und diese Beichte zeigt ihm im Moment vor allem einen unsicheren Menschen mit körperlichen Idealmaßen, der ihm offensichtlich wenig vorzumachen versucht. Dafür spürt Schmidt Sympathie, also Wiedererkennen. Vielleicht ist dies aber auch nur die Altersschwäche eines Berufsskeptikers, der eigentlich selber gern ein netter Kerl wäre.

 

„Sie wissen doch bestimmt etwas über die Vorgeschichte Ihres Dämons.“

 

„Sein Name ist Heinrich Grimm. Er ist der Erfinder der „Stories“, aber das sagt Ihnen als Celeb-Addict vermutlich wenig.“

 

„Sie werden mir bestimmt gerne auf die Sprünge helfen.“

 

„Grimm hat Anfang des Jahrhunderts ‚The Stories of New York’ gegründet. Damals war seine Balance aus Hass und Güte vermutlich noch intakt. Angewiedert von der einseitigen Begeisterung der Medien für strunzblöde Promis entwickelte Grimm ein Magazin, in dem nur die Lebensgeschichten einfacher New Yorker erzählt wurden. Er verpflichtete ein paar talentierte Studenten aus Creative Writing Seminaren und schickte sie los, Kioskbesitzer, Feuerwehrleute, Pastoren, Taxifahrer, Burgerbrater, Gemüsehändler, Schuhputzer, Hausfrauen, aber auch Menschen aus dem Mittelbau von Behörden und Unternehmen, Filmfreaks, Minigolf-Profis oder Wackelbildsammler ausführlich zu befragen, also die Leute aus aller Welt, die das wirkliche Geheimnis der Stadt in sich tragen, das die Medien aber nicht für wert befanden, erzählt zu werden. Dieses Magazin wurde ein gigantischer Erfolg, denn was diese Menschen erlebt hatten, war so unendlich viel interessanter und reicher als die ewig gleichen Lügengeschichten über Zufallsbekanntschaften des Ruhms. Dieses Magazin hat die Menschen ermutigt, zu ihrer Geschichte und ihren Nachbarschaften zu stehen, und wurde von eben diesen Leuten gekauft, um die wunderbaren Menschen kennen zu lernen, die sie selber waren.

 

Grimm gründete danach „The Stories of New Orleans“, dann die von L.A., Chicago und Las Vegas, und expandierte schließlich nach Europa und Asien. Doch irgendwann wurde er müde und verkaufte das Imperium für sehr viel Geld an James Beckham, der versprach, das Magazin genau so fort zu führen, wie Grimm es gemeint hatte. Wenn Sie heute „Die Geschichten von Tinte“ kaufen, dann ist das ein flaches, populistisches Blättchen für Schmuddelstories, Gerüchte, Schmutzkampagnen und Mädchen, die gerne für die Camera ihr T-Shirt hochziehen. Das hat sicherlich auch einen kleinen Anteil an der schlechten Laune des Dämons.“

 

An der Wand klingelt ein altes Wählscheiben-Telefon. Hapur reagiert nicht.

 

„Wollen Sie nicht drangehen?“

 

„Das klingelt hier überall im Haus, aber es ist niemand dran.“

 

Hapur wartet, bis das schrille Läuten verstummt ist, mittlerweile wieder eingesunken in seine depressive Spannungslosigkeit.

 

„Darf ich das Fenster öffnen“, fragt der schwitzende Gast.

 

„Bitte.“

 

Schmidt schiebt den schwergängigen Rahmen hoch und blickt auf eine Feuerwand aus kariösem Klinker. Hinausgelehnt sieht er vor dem Haus Bamberger und seinen Kollegen, die im Dienstwagen zu Pornos wichsen, in die andere Richtung am Ende des langen engen Hausschachts den sengenden Slum. Eine leichte, laue Brise dringt in das Zimmer. Schmidt zieht jetzt doch den Mantel aus, einen alten Magdeburger, dessen Futter er immer wieder flicken lässt, dessen Nähte und Kanten aber schon so mürbe und abgeschabt sind wie eine osteuropäische Industriestadt, und wirft ihn mangels Ablage auf den Boden, wo die Pistole einen dumpfen Laut macht.

 

„Sie sind nicht wirklich gerne Polizist“, sagt Hapur aus dem Dunklen, das jetzt Schmidts geblendete Retina im Griff hat.

 

„Wirkt das so?“, antwortet der und tastet nach seinem Küchenstuhl.

 

„Sie arbeiten allein, sind Vegetarier und kein Macho, fragen in einem persönlichen Ton und haben eine gewisse Freundlichkeit, die mir nicht technisch erscheint. Oder sind Sie einfach der Cop für die speziellen Fälle?“

 

„Ich habe eine psychologische Zusatzausbildung und mag Bücher lieber als Menschen“, antwortet Schmidt.

 

„Dann nehmen Sie doch eines der anderen Zimmer. Sind alle verwaist und kosten nichts.“

 

„Ich überleg es mir“, antwortet Schmidt, „aber wir wollen jetzt mal nicht zu persönlich werden, schließlich sollen wir hier einen Mord aufklären, nicht wahr?“

 

„Einen Mord“, murmelt Hapur, „wenn das so einfach wäre.“

 

„Wie ging es denn weiter am schönen Geburtstag Ihres Chronisten-Daseins?“

 

Hapur sieht ihn leicht gekränkt an, und fährt dann fort.

 

„Ich bin ihnen natürlich gefolgt. Sie gingen eingehakt zum T-Mobile-Boulevard und dann zu Fuß durch Alkahest bis zum Zaun hier drüben am Slum. Dort setzten sie sich auf einen Dreckhügel mit Blick auf die Hütten und redet weiter wie zwei frisch Verliebte. Ich hätte zu gerne gelauscht, aber ich kam nie nah genug heran, ohne Verdacht zu erzeugen. Also blieb ich auf Sichtweite und wartete. Schließlich brachen sie wieder auf und kamen hierher.“

 

„Dies ist das Haus von Heinrich Grimm“, sagt Schmidt mehr feststellend als fragend. „Ist dies auch seine Wohnung?“

 

„Sie ist sein Besitz, aber er lebt oben im Dach und hat sich schon lange nicht mehr aus seinem Sessel fortbewegt. Den sehen wir später“, fügt Hapur hinzu, als er Schmidts entsprechende Frage kommen sieht.

 

„Ich wartete die ganze Nacht vor dem Haus, sah junge Menschen kommen und gehen, aber Neben Sina verließ es erst am frühen Morgen wieder. Ich ging direkt auf sie zu und fragte wohl recht entrüstet, ‚Warum gehen Sie mit diesem Scheusal?’ Sie lachte mich aus, mit diesem unvollständigen bezaubernden Lächeln, das die Hälfte des Gesichts in Trauer lässt.“

 

„Sie waren eifersüchtig.“

 

„Es gibt vermutlich kein anderes Wort dafür. Und Sie können sich denken, dass ich besonders überrumpelt von diesem Schmerz war, denn ich kenne weder große Gefühle noch weibliche Illoyalität gegenüber meinen Reizen.“

 

„Sowas Ähnliches sagten Sie bereits.“

 

„Jedenfalls versprach Sie mir, mich am nächsten Tag zu treffen.“

 

Es klopft.

 

„Mogwai?“ ruft Jamie Hapur.

 

Die Tür zum Treppenhaus öffnet sich langsam und ein gekrümmter Riese im Narrenkostüm, mit weißem, geschwollenen Gesicht, roter Nase und tiefen roten Rändern unter den schwarz geschminkten Augen tritt halb herein.

 

„Du hast Besuch? Das wusste ich nicht. Ich komme zum Staub wischen“, sagt Mogwai mit unterwürfiger Stimme.

 

„Du weißt längst, dass ich Besuch habe, mein Mogwai. Sei doch einfach neugierig – oder wische Staub. Wie du möchtest.“

 

„Ist das die Polizei?“

 

„Das wird sich noch herausstellen“, antwortet Hapur.

 

„Er scheint zu schlafen“, sagt der groteske Clown voll Ehrfurcht.

 

„Wir kommen später rauf.“

 

Mogwai steht einen Moment unschlüssig im Türrahmen und kaut Hautfetzen an seinen Nägeln ab.

 

„Was soll ich tun?“

 

„Geh in die Kirche, das beruhigt dich“, schlägt Jamie vor. Der Narr verschwindet.

 

„Seltsame Gestalt“, sagt Schmidt. „Gehört er auch in die Geschichte?“

 

„Er war vor mir hier, deswegen bin ich mir über seine Gedanken und Motive nicht wirklich im Klaren.“

 

„Wollen Sie mir dann wenigstens Aufklärung darüber verschaffen, was ich da oben finden werde?“

 

„Deswegen sind Sie ja hier. Es gibt dort ein böses Geheimnis. Neben Sina wußte das. Wir trafen uns am nächsten Tag wieder im ‚Beckett’, und sie erzählte mir von Gerüchten über irgendwelche okkulten Mächte hier im Haus, die heilen können, was die Medizin versagt. Menschen würden alt einziehen und jung wieder gehen, Kranke kämen genesen zurück und Hässliche verlören ihr Aussehen wie eine verunstaltete Maske. Angeblich hätte man schon eine Mumie hier hereingetragen und sie als eingewickelten Säugling wieder gesehen.“

 

Schmidt muss grinsen, verkneift sich aber einen Kommentar.

 

„So habe ich auch gedacht. Hokuspokus, naiver Schwachsinn, Hoffnung einer Frau, die unter ihrer Entstellung leidet. Denn die Neben Sina, die ich am nächsten Tag kennenlernte, zeigte vor allem die Bitterkeit einer gebrochenen Seele. Der Schlaganfall hatte ihr Leben zerstört. Jetzt wollte sie an Wunder glauben.“

 

„Sie hat den Dämon bezirzt, um in die Gunst seines Zaubers zu gelangen?“

 

„Ja, anfänglich war es reines Kalkül. Sie legte die Tarnkappe ihres alten Charmes über die Verzweiflung und war fest entschlossen, dem alten Mann sein Geheimnis zu entreißen.“

 

„Haben Sie ihr denn keine heilenden Komplimente gemacht? Sie waren doch hin und weg von Ihrer Erscheinung. Und das können Sie doch bestimmt.“

 

„Damit habe ich ihr Vertrauen gewonnen, tatsächlich, aber nicht ihr Selbstvertrauen. Sie hielt mich wohl für ein wenig meschugge, wenn ich mich in diese zerstörte Fresse verlieben kann. Und von der Aura des Hauses und des Dämons war sie so überzeugt, dass sie kein bisschen an der Magie zweifelte, die man ihm nachsagte. Sie erzählte mir von afrikanischen Wunderheilern und mächtigen Geistern ihrer Väter, die ähnliche Zauber vollbrächten, sprach verächtlich über uns Vernünftler und Tatsachenmenschen, unseren resignativen Kult des Sichtbaren. Ich versuchte vorsichtig einzuwenden, dass Glauben und Religion keine Resultate erbringen, da bekam ich aber so einen hasserfüllten Blick, dass der mich augenblicklich verstummen ließ. Sie musste daran glauben, und wie sich zeigen wird, fällt es in diesem Fall schwer, sie dafür zu verfolgen.“

 

„Sind Sie also auch bekehrt?“

 

„Ich habe Dinge gesehen“, Jamie Hapur hält kurz inne, „um es nicht pathetisch auszudrücken: für die der Film das Wort Special Effects hat, aber in Echt.“

 

„Langsam fängt es an, spannend zu werden.“

 

„Sparen Sie sich Ihren Bullen-Zynismus. Sie kommen bald selbst an der Stelle vorbei, wo die Wahrnehmung stockt.“

 

„Was hatte Neben Sina hier gesehen, das sie von ihrer Theorie überzeugte?“

 

„In der Nacht, als ich vor dem Haus wartete, nur die Pracht. Dieses Gebäude verbirgt mehr als es zeigt. Es beherbergt einen richtigen Dom und Klingsors Zaubergarten, einen Festsaal für ein Staatsbankett und zahlreiche Gemächer wie jene, die Sie vermutlich gesehen haben, wenn Sie weit genug gegangen sind. Es gibt hier ein altes Kinderkarrussel und einen Wasserfall, eine Holzwerkstatt und zahlreiche Gästezimmer, ein Observatorium, eine Ruhmeshalle und ein Burgzimmer mit Kamin. Und einen alten Mann, der wohl überaus kundig und charmant erzählen kann, nachdem er auf die männliche Umnachtung geschworen hat.“

 

„Wo ist Frau Sina jetzt?“

 

„Ich weiß es nicht.“

 

„Ihre Wunderheilung ist also misslungen?“

 

„Es kam nicht mehr dazu.“

 

„Weil Sie den Dämon liquidiert haben?“

 

„Sie sind aber überaus vorschnell.“

 

„Alte Bullenkrankheit. Also weiter.“

 

„Neben erzählte beseelt von der Schönheit und Größe dieses ‚Schlosses’ und versprach, mich gleich an diesem Abend mitzunehmen, denn Grimms Haus sei offen für Jedermann. Und so ließ ich mich selbst überwältigen. Wobei die Reaktion des Alten bei meinem Erscheinen die Vorführung nicht ganz so gelungen machte, wie am Abend zuvor. Grimm erschrak als er mich sah, war unkonzentriert und verwirrt, starrte mich grimmig an. Neben hätte es bereuen können, mich mitgebracht zu haben, aber sie blieb treu in beide Richtungen. Sie schenkte Grimm ihre vollendete Grazie und behandelte mich wie einen Bruder. Damals hielt ich sein Verhalten für Eifersucht und meinte, dass Nebens Charme seinen Missmust irgendwann in Freundlichkeit umschlagen hat lassen. Jedenfalls bot er mir am Ende der Tour generös ein Zimmer an. Und zu seiner mir damals schwer verständlichen Freude nahm ich an.“

 

„Warum?“

 

„Weil ich immer vor meinen eigenen Dämonen fliehe, um wieder bei ihnen zu hausen. Mein Glück ist erstarrt, was das betrifft. Ich dachte wirklich, ich könnte mit Afra endlich glücklich werden, mich ändern und Ruhe finden. Stattdessen quälten mich Ängste und Depressionen, ihre Zuneigung machte mir Panik, ihre Freizügigkeit reizte nur meine dumpfen Autoaggressionen. Ich wurde mir selbst eklig, und als ich dann im Kotzbrocken-Status eine kleine Wohnung hier um die Ecke bezog, infizierte ich alle Dinge mit meinem Schwermut. Ich war also nur zu dankbar, wieder einmal davon laufen zu dürfen.

 

Und außerdem wollte ich Neben nahe sein und den Alten ärgern.“

 

„Sie sagten, dass hier junge Leute ein und aus gingen. Ich hatte mehr das Gefühl, das Haus sei vollkommen verlassen, als ich herkam. In welchem Verhältnis standen diese Menschen zu Grimm?“

 

„Als die Atmosphäre dunkel wurde, sind sie alle verschwunden. Vorher führte Grimm in seinem rästelhaften Schloss eine Art Talent-Asyl. Wer immer ihm interessant und eigenwillig genug erschien, dass er im späteren Leben für eine Geschichte taugen könnte, den lud er ein, ein Zimmer auf seinen Fluchten zu beziehen. Er war eine Art Headhunter...“ Jamie stockt, lacht kurz gequält auf.

 

„Was ist an dem Begriff so merkwürdig?“ fragt Schmidt.

 

„Das verstehen Sie später. Jedenfalls war Grimm kein Talentsucher im klassischen Sinne, denn sein Kriterium war nicht der Erfolg. Er stellte zum Beispiel dem jungen verhuschten Buchhändler mit den langen klebrigen Pullis von dem letzten Buchladen des Viertels zwei Blocks weiter ein Bett hier in die Bibliothek. Er gab einem lichtscheuen Mathematiker, der überzeugt war, dass in Benfords Gesetz eine göttliche Konstante verborgen ist, mit der man alles, sogar die Zeit mathematisch verstehen kann, den Chor des Doms, damit er dort seine Computer und selbst konstruierten Rechenmaschinen aufbauen konnte. Eine verschlossene theosophische Malerin von abstrakten Farbmustern, ein junger Musiker, der jedes Instrument intuitiv beherrscht, hier mit alten rauschenden Tonbandgeräten Kompositionen von bizarrer Atonalität schuf, aber niemals auftreten wollte, ein menschenscheuer Fotograf und andere verzweifelte Zweifler fanden hier Unterschlupf. Aber auch ein Meeresbiologe machte hier Landgang, eine Krankenschwester mit Sonnenbrillentick, die überzeugt war, dass sie Engel sieht, lebte im Souterrain, und zwei schwule Boxer. Als einzige Gegenleistung für Kost und Logis erwartete Grimm, dass alle Bewohner Mittwoch um 12 Uhr, wenn der buddhistische Kalender den Tag teilt, im Bankettsaal zusammen kamen und berichteten oder Beispiele von dem gaben, womit sich ihre Introvertiertheit gerade beschäftigt.“

 

„Und was war ihr Talent, mit dem sie in der Runde protzen konnten?“

 

„Ich beschrieb die Stadt und ihre Frauen.“

 

Nun steht Jamie Hapur das erste Mal vom Hocker auf, seit er Schmidt herein gelassen hat und geht zum Fenster. Denn der Kopf einer Leiter wurde gerade an den Sims gelehnt und die schwingenden Bewegungen des Holzes zeigen, dass jemand zu ihnen hinaufsteigt. Es erscheint ein schwarzer Hut mit breiter Krempe und weißem Kragen über einer langen schwarzen Robe, denn der Mann, der über die Leiter ins Zimmer klettert, stieg mit dem Rücken zur Wand, also verkehrt herum die Stufen hoch. Jamie Hapur hilft ihm herein, und als Schmidt sein Gesicht sieht, erkennt er einen Mann um die Vierzig mit altertümlich gezupftem roten Vollbart, der einem Gemälde Rembrandts oder Frans Hals entsprungen sein könnte. Hapur begrüßt ihn freundlich und zieht dann die Leiter herein, lehnt sie auf dem Boden an die Regale.

 

„Entschuldigung, das Fenster war offen. Das hielt ich für das Zeichen. Ich wusste nicht, dass du Besuch hast“, sagt der Mann in einem weich-gurgelnden niederländischen Akzent zu Hapur, zieht vor Schmidt den Hut und verbeugt sich: „Guten Morgen. Nicolaes Tulp, Anatom“, stellt er sich vor.

 

„Herb Schmidt, Polizist“, antwortet der Gegrüßte, was den Sonderling zusammen zucken läßt.

 

„Dann will ich nicht weiter stören. Ich wollte nur ins Labor“, sagt Tulp und verschwindet durch die Bibliothekstür.

 

„Er hat eine Treppen-Phobie“, erklärt Hapur den ungewöhnlichen Auftritt, „und ist natürlich nicht der echte Dr. Tulp.“

 

„Hätte mich jetzt auch nicht gewundert“, antwortet Schmidt sarkastisch. „Wie ging es nach der ersten Begegnung mit Ihnen und Frau Sina weiter?“

 

„Neben kam jeden Morgen und jeden Abend um kurz vor acht, um sich zwei Stunden von Grimm unterhalten zu lassen. Natürlich hatte sie bereits beim dritten Besuch nach den Heilkräften des Hauses gefragt und damit dem Alten ihre eigennützigen Absichten offenbart. Aber er war zu fasziniert von ihrer Erscheinung, um darüber in Kränkung zu verweilen. Vielmehr schlug er Neben einen Vertrag vor, der an Eitelkeit kaum zu überbieten war – das sag ich nur, weil Sie mich ja für so einen besonderen Geck halten: Dagegen war dieser Pakt der Friedhof aller Bescheidenheit.“

 

„Ich bin gespannt“, lächelt Schmidt gütig.

 

„Grimm versprach Neben vollständige Heilung in dem Moment, wo sie sich in seiner Gegenwart das erste Mal langweilt. Sollte sie bei ihren täglich zwei Besuchen je von einem Gähnen übermannt werden, Entschuldigung, überfraut werden, wäre sie sofort die Alte. Allerdings verlöre sie in dem Moment auch jede Erinnerung an die Geheimnisse, die er ihr zu offenbaren gedenke.“

 

„Ein faustischer Pakt, scheint mir“, sagt Schmidt.

 

„Ich habe Goethe nie gelesen“, antwortet Hapur.

 

„Warum nicht?“

 

„Dieses Streben zum Besten ist mir unangenehm.“

 

„Verstehe. Und welche Rolle spielten Sie bei dieser Abmachung?“

 

„Ich war der Zeuge. Neben verlangte es nach einer neutralen Instanz und Grimm schien diese Variante zu gefallen. So saß ich also jeden Tag vor einer der zwei verbotenen Türen vier Stunden mit Blick auf das ungleiche Paar, um zu entscheiden, ob Neben gegähnt hat.“

 

„Hat sie?“

 

„Niemals. Sie blieb gebannt. Denn Grimm konnte lebhaft von Dingen berichten, die er niemals selbst erlebt haben kann, und er besaß Medien, seine Geschichten sichtbar zu machen, die wie Zauber wirkten. Im Raum zwischen ihnen entstanden Welten aus dem Nichts: das Babylon Nebukadnezers und die Lehmstädte der Hopi-Indianer, versunkene afrikanische Metropolen und das Leben auf einem russischen Atom-U-Boot. Er führte sie in eine Mithras-Höhle und zu den eleusischen Mysterien, belauschte und übersetzte ihr vertrauliche Gespräche der Renaissance-Päpste mit der Inquisition, begleitete für sie Expeditionen des Thule-Ordens nach Tibet und besuchte grausame Opferriten amazonischer Skythen-Völker. Stets ging es um geheime Kulte, eigentümliche Personen und den Kampf zwischen Gut und Böse. Und jede neue Variante besaß wieder die Macht, den eigenen Körper zu vergessen.“

 

„Wie lange gingen diese Vorführungen?“

 

„Wochen, wenn ich mich recht erinnere. Neben schien völlig zu vergessen, warum sie Grimm ursprünglich aufgesucht hatte. Auch mich registrierte sie nur noch wie ein Möbel. Sie war offensichtlich süchtig nach den plastischen Bildern, die Grimm in der Blase zwischen Ihnen entstehen ließ.“

 

„Und Sie selbst?“

 

„Vielleicht lag es daran, dass ich einige Meter entfernt im Dunklen saß, aber ich gewöhnte mich an den spiritistischen Zauber und hatte manchmal Mühe, mich wach zu halten. Nachdem die erste Faszination für die Bilder und das Wissen Grimms sich routiniert hatte, langweilte ich mich eine wenig wie beim History Channel, wenn man ihn jeden Tag kuckt. Und der Dialog der beiden bekam die Züge von Rechthaber-Gemurmel alter Schachfreunde im Park.“

 

„Dialog?“

 

„Ja, Neben stellte Fragen, viele Fragen, lenkte die Bilder auf Aspekte, die sie aus irgendwelchen Gründen interessierten, widersprach, korrigierte, wollte Details und Abläufe erklärt bekommen.“

 

„Welche Seite ihres Gesichtes sahen Sie eigentlich von ihrem Schiedsrichterstuhl?“

 

„Warum?“

 

„Nur der Vorstellung halber.“

 

„Das zerstörte.“

 

„Fragte Frau Sina nie, woher Grimm diese Bilder und dieses Wissen nahm?“

 

„Ich glaube, sie hatte Angst vor der Frage. Ich übrigens auch. Aber natürlich wird man trotzdem nicht mit der Antwort für so einen drängenden Aspekt verschont.  Wie so oft, zeigte der Zufall sein herrisches Können.“

 

Wieder klopft es und Mogwai steckt seinen großen Kopf herein, auf den er jetzt eine Narrenmütze mit Glöckchen gezogen hat: „Kommt ihr bald?“, fragt er mit einer verzagten Stimme, die den ganzen Kerl endgültig harmlos macht.

 

„Noch ein bisschen Mogwai. Du kannst sonst Dr. Tulp im Labor helfen.“

 

Erleichtert eilt der ungestalte Riesen-Clown zur anderen Tür und verschwindet wieder.

 

„Wovor hat er solche Angst?“

 

„Er traut dem Frieden nicht, vermute ich. Und er hat lange seinem Herrn gedient, und spürt, dass dieser sich verändert hat. Er fühlt sich führerlos, und das ist nicht gut für Wesen.“

 

„Kommen wir zu den verbotenen Türen, denn dahinter verbirgt sich ja vermutlich das Geheimnis.“

 

Jamie Hapur nickt und schweigt eine etwas absichtlich wirkende Pause mit Blick auf die Dielen.

 

„Eines morgens kam Neben nicht, genauer, sie kam viel zu spät. Ich weiß nicht, wo sie war, aber sie kam extrem gehetzt und aufgelöst gegen Mittag hier an. Wir beschlossen, trotzdem zum Alten rauf zu gehen, aber er war nicht da, jedenfalls nicht in seinem Sessel in der Zimmermitte. Aber hinter der rechten Tür des Raums hörten wir ihn schließlich mit einer anderen piepsigen Stimme streiten, in einer fremdartigen Sprache, die Neben als Aramäisch identifizierte?“

 

„Woher kann eine Popsängerin aus Somalia Aramäisch?“

 

„Äthiopien, nicht Somalia. Es ist die Kult-Sprache jener Sekte der Essener, der ihre Mutter angehört. Wir lauschten eine Zeitlang und Neben wurde bleich, so weit man das bei ihrer Hautfarbe sagen kann. Obwohl sie mich geradezu panisch davon abhalten wollte, klopfte ich, und sofort verstummte der Dialog. Nach einer kurzen Weile kam Grimm raus und schickte uns fort. Sina stürzte aus dem Haus, und ich hatte Schwierigkeiten, sie wieder einzufangen.“

 

Jamie Hapur legte eine weitere Kunstpause ein.

 

„Er spricht mit dem Teufel.“ Hapur blickt Schmidt direkt an und wartet auf die Reaktion, die nicht kommt. „Das waren ihre Worte, als ich sie eingeholt hatte: ‚Es stimmt tatsächlich. Er spricht mit dem Teufel, und der Teufel will mich sehen.’“

 

„Was hindert ihn“, fragt Schmidt weiter ungerührt.

 

„Heinrich Grimm hatte ihn geköpft und bewahrte seinen Körper in dem einen verschlossenen Raum auf, den Kopf in dem anderen.“

 

„Heinrich Grimm hat den Satan geköpft?“

 

Hapur schüttelt erst den Kopf, dann korrigiert er sich und nickt. „So sieht es aus, wenn man seinen Augen traut, ja. Ich spare Ihnen die umständliche Geschichte, wie es dazu kam, dass wir es selbst sehen konnten, aber Neben, die nach dem ersten Schock irgendeine religiöse Pflicht empfand, dem Bösen entgegenzutreten, entschied den Streit schließlich für sich und Grimm öffnete uns widerwillig die rechte Tür. Sie führt in einen grellweißen Raum in Form einer hohlen Pyramide, und in der Mitte auf einer Säule befand sich ein Kopf – in der Größe einer Rosine. Aus seinem winzigen Hals quoll langsam aber unablässig zähflüssiges schwarzrotes Blut, das in feinen Fäden von der Plattform über die Säule in ein Becken floss, in dem die Säule steht, und von dort irgendwohin versickerte. Wir blieben zunächst respektvoll bei der Tür stehen, aber die Größe war tatsächlich wenig furchteinflößend. Also traten wir näher heran, und dann bekam ich meinen Schock.“

 

Hapur scheint jetzt tatsächlich bei aller wohldosierten Leidens-Theatralik nicht wohl, so dass Schmidt ihm die Cola-Flasche rüberreicht, die er auch dankbar austrinkt.

 

„Der Teufel hat mein Gesicht.“

 

„Überraschende Wendung“, kommentiert Schmidt lakonisch.

 

Hapur ignoriert die wiederholte Provokation Schmidts und fährt fort.

 

„Neben war irritiert, aber auch fasziniert, und Grimm beobachtete uns ernst. Jetzt verstand ich natürlich sofort seine konfuse Reaktion auf mein Erscheinen und seine anschließende Einladung. Er erkannte einen Zusammenhang zwischen seinen Gästen, ohne ihn zu verstehen. Er spielte mit der Vorsehung oder der dunklen Macht. Und die zeigte erst einmal großen Charme. Der Teufel machte Neben Sina bezaubernde Komplimente.“

 

„Verstanden Sie da auch plötzlich Aramäisch?“

 

„Natürlich nicht. Er sprach mit meiner Stimme in Piepsig das aus, was ich gerne zu Neben gesagt hätte, mich aber nicht mehr traute, seit sie meine verliebte Begeisterung so schroff abgewiesen hatte. Er imitierte meine Wünsche und bediente sich meiner Gedanken. Und Neben verstand das sofort, sah mich mit einem skeptischen Semi-Lächeln an und verlor schlagartig ihre Scheu vor dem Anti-Christ. Ab diesem Zeitpunkt fanden unsere Sitzungen in seinem Kabinett statt. Und ich hatte nun Angst vor allen Drei.“

 

„Aber sie wichen nicht.“

 

„Nein, denn auch wenn Sie es nicht verstehen werden, ich hatte das Gefühl, dass ich Neben beschützen muss, zumindest jenen Teil, der noch nicht mit dem blutenden Kopf befreundet war, der mein Gesicht gestohlen hatte. Ich glaubte sie unter einem Bann, auch wenn sie mir außerhalb des Raums absolut natürlich vorkam und rational und freundlich über die Erlebnisse dort oben sprach. Sie versuchte mir zu erklären, dass ihre Kommunikation mit dem Ding keine Gefahr darstelle, sondern einfach eine wunderbare Gelegenheit wäre, das Spirituelle zu verstehen. Das Einzige, was auch ihr Sorgen machte, war, dass der Kopf langsam wuchs.“

 

„Der Kopf wuchs? Und Sie konnten den Aus-Schalter nicht entdecken.“

 

„Es gab keinen Mechanismus. Betrachte ich es logisch, dann war vielleicht eine besondere Art der Zellteilung dafür verantwortlich, aber ehrlich gesagt interessierte mich der Trick auch nicht, denn der Akt erfüllte seinen Zweck der Bedrohlichkeit vollkommen. Selbst Grimm, der sich sehr als Herr und Beherrscher dieses Schädels gefiehl, wurde es bei diesem Wachstum mulmig. Als es die gewöhnliche Größe eines menschlichen Kopfes überstieg, spürte ich deutlich seine Nervosität. Er hatte keine Mittel gegen diesen Prozess, außer Neben wieder zu entfernen. Denn ganz offensichtlich ließ ihre Präsenz den gefallenen Engel erstarken.“

 

„Was wollte ihr Ballon-Kopf denn eigentlich von Neben Sina?“

 

„Widerspruch, angeblich. Die einsam umherstreifenden Teufel seien kein Prinzip des Bösen, wie er immer wieder betonte, sondern Schäfer der Gegensätze. Anders als die Religion, die zur Auflösung im reinen Zustand strebt, sorgen Teufel sich um das Leben, seinen Fortgang und die Vielfalt. Deswegen reizen sie zu Individualismus und Opposition, zu Kontrasten und Bedrohung, denn nur in der Störung läge die Kraft und der Wille zur Erneuerung, zur Evolution.“

 

„Und was sagt Gott dazu?“

 

„Es gibt keinen Gott“, entrüstet sich Hapur, und fügt dann leiser hinzu: „sagt Satan. Nur Blütenstaub und Selbstmörder.“

 

„Kräfte?“

 

„Ja, Kräfte. Es gibt nur Kräfte, die im Bereich des Immateriellen vielerlei Namen tragen: Interesse, Neid, Zorn, Askese oder Ausgleich.“

 

„Und dieses Ding und seine Kollegen streifen in der Seelenwelt herum und provozieren Menschen zu Abweichungen?“

 

„Sie inspirieren Maler, aber betrachten auch Schweizer Drogenkartelle mit Zuneigung. Wenn ein Zustand sich zu verfestigen beginnt, egal welche moralische Kategorie die Menschen damit verbinden, dann zieht es die gefallenen Engel magnetisch dort hin, um die Symmetrie wieder in Schwingung zu versetzen. Die Mittel, die sie einsetzen, korrespondieren dabei immer mit dem Zustand, den sie auflösen wollen. Das Gefühl, mit dem sie ihre Präsenz ankündigen, ist das Unbehagen bei den sensibleren Naturen, die Gier bei den plumpen. Wenn aber der Schrecken zum Alltag wird, dann wechseln sie auch wieder die Seite und provozieren das Gute, das in der Menschen Augen Gute.“

 

„Sie reden ein wenig wie Satans Pressesprecher.“

 

Hapur lacht kurz auf, dann wird er wieder streng: „Keineswegs. Ich gebe nur wieder, was ich verstanden habe. Und es ist auch nicht so, dass ich der Stringenz dieser Argumente echten Glauben schenke, denn seine Absichten in Bezug auf Neben blieben verschlüsselt. Er wollte sie für irgendetwas benützen, aber ich glaube nicht für das, was sie dann tat.“

 

„Nämlich?“

 

„Ihn töten zu lassen.“

 

„Man kann den Teufel töten?“

 

„Wenn ich das wüsste. Ich habe es jedenfalls versucht.“

 

„Wie?“

 

„Mit Goldlack.“

 

Schmidt öffnet die zweite Flasche Bier, die inzwischen nur noch sanft kühl ist, trinkt einen Schluck und fragt Hapur: „Verschwende ich hier gerade meine Zeit?“

 

Hapur schüttelt den Kopf.

 

„Den Mord, den Sie anzeigen wollen, ist ein Goldlackattentat auf den Anti-Christ, von dem Sie noch nicht einmal wissen, ob es erfolgreich war?“

 

„Die schwarzen Engel brauchen Licht, um zu leben. Es ist ihre einzige Nahrung. Ich habe ihn vollständig mit Gold überzogen, danach ist sein Kopf wieder geschrumpft und vermutlich verschwunden.“

 

„Vermutlich?“

 

„Ich habe mich nicht getraut, die Lackschicht zu durchstechen, um nachzusehen. Ich habe nur daran geklopft. Der Kopf tönte leer.“

 

„Und sein Körper?“

 

„Das wurde das Problem. Er überfiel anschließend das Haus mit seinen Nerven, saugte Informationen aus allem, was ihm hier zugänglich wurde, und gewann dabei riesige Ausmaße. Die andere Pyramide hinter der zweiten verbotenen Tür, in der der abgetrennte Körper gefangen war, füllte er schließlich vollkommen aus. Wir drehten ihm das Licht ab und dann verwelkte auch er. Das tote Gestrüpp überall haben Sie ja vermutlich bereits gesehen.“

 

„Wir?“

 

„Grimm sah schließlich ein, dass er diese Kräfte nicht beherrschen konnte und willigte ein, sie zu zerstören, oder wenigstens zu vertreiben.“

 

„Und Frau Sina?“

 

„Nachdem sie mir erklärt hatte, wie ich den Teufel vernichten kann, ist sie verschwunden.“

 

„Grimm lebt aber noch?“

 

„Sitzt oben. Sollen wir jetzt zu ihm gehen?“

 

„Nach Ihnen bitte.“

 

 Sofort steht Mogwai wieder im Zimmer, der offensichtlich an der Tür gelauscht hat: „Ich bring euch hin.“

 

„Wenn der Fall nicht eilt, würde ich gerne vorher noch einige der fantastischen Räume hier sehen“, sagt Schmidt und befreit Hapur von den rosapelzigen Handschellen.

 

„Das geht“, sagt Hapur, „aber manche haben sich nach dem Tod Semjazzas zurückgezogen.“

 

„Wie verstehe ich das?“

 

„Der Dom ist auf die Größe einer Kirche geschrumpft, zum Beispiel.“

 

„Ist ja ein emsiges Wachsen und Schrumpfen hier.“ Schmidt holt seinen goldenen Zahnstocher aus dem Etui und puhlt sich die Spinatreste aus den Zahnlücken. An der Wand klingelt erneut das alte Telefon.

 

„Womit fangen wir an?“

 

„Klingsors Zaubergarten?“

 

„Ich hasse Wagner“, murrt Schmidt und nimmt seinen Magdeburger vom Boden.

 

„Dann wird Ihnen der Garten gefallen“, sagt Mogwai und lacht, dass man ihn für einen von uns halten könnte.

 

 Hier verliert sich das endlose Band zunächst im Dunklen...

 

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